Frankfurt

Annäherungsversuche

Veronika Brier, Geschichts- und Deutschlehrerin an der Frankfurter Louise-von-Rothschild-Schule, hat ein ganz eigenes pädagogisches Konzept: »Am meisten lernt man in der Schule, wenn man herausgeht«, ist sie überzeugt. Deshalb ist sie mit 25 Jugendlichen der Klasse 10 b mit dem Bus den Lohrberg hinaufgefahren, zur Altenwohnanlage der Budge-Stiftung in Seckbach, am Stadtrand Frankfurts, um dort das Gespräch mit Zeitzeugen, mit Überlebenden der Schoa zu suchen.

Die Begegnung zwischen jungen und alten Menschen, die im Schnitt 70 Jahre Lebenserfahrung und vor allem ein Schicksal, das in seinem Schrecken immer singulär bleiben wird, trennen, hat beiden Seiten viel gebracht. Den Schülern mehr Verständnis für die deutsch-jüdische Geschichte, als alles angelesene Wissen ihnen vermitteln kann. Und den Heimbewohnern? Die Gewissheit, dass auch eine Generation, für die NS-Diktatur, Vertreibung und Ermordung der europäischen Juden ferne Vergangenheit bedeuten, sich für ihre Lebensgeschichten interessiert. Und das gibt ihnen die Beruhigung, dass niemals in Vergessenheit gerät, was sie in einem Alter erlebt und erlitten haben, in dem die Schüler der zehnten Klasse heute sind.

Möglichkeiten Aber dieses Gespräch bietet ihnen vor allem auch die Möglichkeit, ihren jungen Zuhörern davon zu erzählen, wie sie es geschafft haben, trotz Vertreibung und Entwurzelung, trotz des Verlustes vieler Angehöriger, weiterzuleben und eine neue Existenz aufzubauen. Denn seit Längerem beschäftigt sich die Klasse mit der frühen Nachkriegszeit.

Manfred Levy, Leiter des Pädagogischen Zentrums Frankfurt am Main, das diese Begegnungen organisiert, hat den Schwerpunkt bewusst gewählt. Fast immer noch würden Juden und jüdisches Leben vor allem unter dem Gesichtspunkt der Verfolgung und des Antisemitismus betrachtet, kritisiert Levy. Und dieser eingeschränkte Blick verzerre auch die Wahrnehmung der Vergangenheit. Dem Pädagogischen Zentrum, einer gemeinsamen Einrichtung des Jüdischen Museums und des Fritz-Bauer-Instituts, geht es deshalb darum, die Themen jüdische Geschichte und Gegenwart auf der einen, Geschichte und Nachgeschichte des Holocaust auf der anderen Seite voneinander zu trennen, um sie endlich genauer kennenzulernen.

Mit der Realschule ist das Pädagogische Zentrum eine eigene Bildungspartnerschaft eingegangen, um sie bei der Annäherung an jüdisches Leben in Deutschland und an die Schoa und deren Wirkungsgeschichte zu unterstützen. Der andere Partner ist die Budge-Stiftung. Denn in dieser Altenwohnanlage mit angeschlossenem Pflegeheim leben Juden und Nichtjuden unter einem Dach.

Fragen »Wie war es, hier wieder sesshaft zu werden?«, fragt jetzt der 17 Jahre alte Dejan sein Gegenüber. Die Fragen, die die Jugendlichen aus der Rothschild-Schule den Zeitzeugen stellen, haben sie sich vorher gemeinsam überlegt. Oft wollen sie konkrete Details wissen, etwa, mit wie viel Gepäck jemand in Deutschland ankam oder wann und wie er seine spätere Ehefrau kennengelernt hat. Sie wollen die individuelle Realität hinter der allgemeinen Geschichtsschreibung erfahren.

Was Heinz Hesdörffer daraufhin Dejan und seinen Schulfreunden erzählt, verrät viel von den Ambivalenzen und der Zerrissenheit, die die meisten nach Deutschland zurückgekehrten Juden bis heute empfinden. Hesdörffer kam erst 2009 nach Frankfurt.

Es zog ihn in eine Umgebung zurück, in der er Deutsch sprechen konnte. »Hier im Wohnheim ist alles optimal für mich«, meint der 88-Jährige fröhlich. Seine Lebensenergie und Zuversicht wirken ansteckend, auch genießt er es sichtlich, so viele junge Menschen um sich zu haben, die alle gebannt an seinen Lippen hängen. Hesdörffer hat auch ein Buch über sein Leben geschrieben: Bekannte traf man viele….

albträume Nach dem Krieg, so berichtet er, habe er viele Jahre in Südafrika gelebt, bis er und seine Frau vor den aufbrechenden Rassenunruhen flohen. Das Paar ging nach New York, wo der einzige Sohn der beiden lebt. Seine Frau ist dort geblieben: »Sie will nie wieder deutschen Boden betreten«, sagt Hesdörffer. »Noch heute plagen sie furchtbare Albträume.«

Sie und ihre Angehörigen waren vor der Deportation versteckt worden, aber an verschiedenen Orten. »Keiner wusste, wo sich die anderen befanden, damit sie einander im Verhör nicht verraten konnten.« Ob er sie denn gar nicht vermisse?, fragen die Jugendlichen verwundert. Hesdörffers Lächeln ist schmerzlich: »Doch. Wir telefonieren zweimal täglich.«

»Was wir hier erfahren – man kann es nicht mehr vergessen«, meint Dejans Mitschüler Senthan. In der Schule werden die Jugendlichen die Berichte der Zeitzeugen auswerten und zu Texten zusammenfassen, die sie dann zusammen mit Fotos auf Plakatwänden im Schulgebäude ausstellen wollen. Senthan glaubt, dass alle aus der Vergangenheit für die Zukunft lernen können: »So etwas darf nie wieder passieren!«

Dabei bleibt die Perspektive der Heranwachsenden nicht auf den Antisemitismus beschränkt. Vielmehr fragen sie sich, wie es angehen konnte, dass eine Gruppe so massiv von der Mehrheit ausgegrenzt werden konnte. Und diese Fragestellung berührt ebenso ihre eigene Lebenswirklichkeit, schließlich sind viele Schüler Kinder von Einwanderern. Diskriminierung wegen einer anderen Herkunft, Religion oder Hautfarbe dürften auch manche von ihnen bereits erfahren haben. Sie alle wollen auf keinen Fall »Opfer« sein; auf dem Pausenhof gilt das als übles Schimpfwort.

Für die Menschen, denen sie beim Zeitzeugengespräch begegnet sind, empfinden sie großen Respekt. Denn auch wenn das Alter manche von ihnen gebrechlich wirken lässt, haben sie die Jugendlichen durch ihren ungebrochenen Lebensmut tief beeindruckt.

Frankfurt/Main

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