Deutschlands jüdische Gemeinden haben mit einer fortschreitenden Überalterung zu kämpfen. Die Mehrheit der rund 100 Gemeinden im Bundesgebiet meldet in den letzten Jahren mehr Todesfälle als Geburten und Neueintritte. Die Zahl der Mitglieder hat sich in den vergangenen zehn Jahren kontinuierlich pro Jahr um durchschnittlich knapp 1000 auf – Stand Dezember 2018 – 96.195 Personen reduziert.
Im Landesverband der Jüdischen Gemeinden Brandenburg mit Bernau, Cottbus, Frankfurt/Oder, Königs Wusterhausen und Oranienburg »steht den elf Todesfällen im vergangenen Jahr eine Geburt gegenüber«, klagt Verbandsgeschäftsführer Vladimir Velin. Auch der Geschäftsführer der Israelitischen Religionsgemeinde zu Leipzig, Josif Beznosov, blickt mit Sorgen auf die Zahlen, die die Zentralwohlfahrtsstelle der Juden in Deutschland (ZWST) veröffentlicht hat. Von den 1200 Mitgliedern in der Messestadt sind gut 700 jenseits der Rentengrenze.
60PLUS »Mehr als 60 Prozent unserer Mitglieder sind 60plus«, berichtet Rebecca Seidler, stellvertretende Vorsitzende der Liberalen Jüdischen Gemeinde Hannover. Mit 700 Mitglieder ist sie die größte im deutschsprachigen Raum existierende liberale Gemeinde.
»In den Synagogen sind oft die älteren Gemeindemitglieder zu finden. Die Jüngeren fehlen eher«, resümiert Susanne Benizri. Die 51-jährige Mannheimer Religionslehrerin ist Erziehungsreferentin der Israelitischen Religionsgemeinschaft Baden. Lag Ende der 80er-Jahre der Anteil der Gruppe »60plus« noch bei rund 36 Prozent, so sind drei Jahrzehnte danach bundesweit die Hälfte oder mehr der Mitglieder älter als 60 Jahre.
Bei einem tropfenden Wasserhahn kommt der Gemeindehandwerker ins Haus – auch diesen Service wollen Gemeinden leisten.
»Wir stagnieren zwar, aber das ist auch Ausdruck von konsolidierten Strukturen«, betont Steve Landau von der Jüdischen Gemeinde Wiesbaden. Heute bilde die Gemeinschaft (831 Mitglieder) »einen Mikrokosmos, der die Bevölkerungsentwicklung in Deutschland widerspiegelt: Wir sind überaltert, werden aber nicht weniger«.
Das wohl auch, weil jungen Familien, die im Rhein-Main-Eck Arbeit gefunden haben, ehrenamtliche Gemeindemitglieder bei der Eingliederung zur Seite stehen. Kinder erhalten klassenübergreifenden Religionsunterricht. »Mit den jungen Familien kommen oft deren Eltern. Und sie können sicher sein, dass die Gemeinde sich auch um diese kümmert«, betont der 47-Jährige – »generationsübergreifend«.
Das erfahren auch jene Kontingentflüchtlinge, die aus halachischer Sicht keine Juden sind. »Auch ihnen stehen unsere Türen offen.« Der in Frankreich aufgewachsene Landau sieht seine Aufgabe darin, »viele Türen für viele zu öffnen«. In sein Verständnis einer Gemeinde als »moderner Dienstleister« passt auch die »mobile technische Haushaltshilfe«. Ein verstopfter Abfluss, ein tropfender Wasserhahn oder ein paar Bilderhaken in die Wand schlagen – ein Gemeindehandwerker kommt bei Anruf ins Haus. »Auch das sind Komponenten für eine stabile religiöse Gemeinschaft«, sagt Landau.
»Wir müssen attraktiv sein in den verschiedenen Lebensphasen der Gemeindemitglieder«, sagt der Geschäftsführer der drittgrößten Gemeinde Deutschlands, Düsseldorf, Michael Szentei-Heise. Ein Rezept, das sich über die Jahre für die fast 6700 Mitglieder bewährt hat. Und das Angebot kann sich sehen lassen: Kindergarten und Kita ab einem Jahr, Grundschule und Gymnasium, professionell geführtes Jugendzentrum sowie ein Elternheim für die Betagten.
»Nach dem Studium kehrten viele zurück«, betont Szentei-Heise – auch aufgrund des breit aufgestellten sozialen Angebots der Gemeinde. Auch in vielen jüdischen Gemeinden am Rhein bleibt Religionsmüdigkeit ein Thema, auch wenn das »ein gesellschaftliches Phänomen und Problem« ist.
STUDIE »Viele junge Juden haben vor allem ein kulturell geprägtes Verständnis vom Judentum und nicht ein religiöses«, konstatiert die Soziologin Karen Körber, die am Institut für die Geschichte der deutschen Juden in Kooperation mit der Akademie der Weltreligionen der Universität Hamburg lehrt. Sie erforschte 2014 »(russisch-)jüdische Zugehörigkeiten in der deutschen Einwanderungsgesellschaft«.
Stabile Bindungen an Gemeinden entsprechen immer weniger den mobilen und flexiblen Lebensentwürfe junger Menschen.
»Mobile und flexible Lebensentwürfe der jungen Menschen haben zur Folge, dass ihnen langjährige, stabile Bindungen an Gemeinden immer weniger entsprechen; stattdessen sagen ihnen andere, kurzlebige und wechselnde Formen von Gemeinschaftsbildung, etwa im Rahmen von Seminarangeboten oder besonderen Events, eher zu – das muss in den Gemeinden zur Kenntnis genommen werden«, rät Körber.
Diesen veränderten Bedingungen gerechter zu werden, darauf zielt im Flächenland Brandenburg die Jugendarbeit mit einem breiten Angebot von sportlichen, sozialen, aber auch religiösen Veranstaltungen. Viele Familien sind auf staatliche Transferleistungen angewiesen, und so bemühen sich die Gemeinden, ihren Jugendlichen die Teilnahme an Veranstaltungs- und Seminarangeboten durch Übernahme des Eigenanteils zu ermöglichen. In den fünf Mitgliedsgemeinden organisieren jeweils Madrichim die Jugendarbeit vor Ort – vernetzt übers Internet. Ein »mobiler Rabbiner« sorgt für die religiöse Betreuung, Feiertage werden oft gemeinsam gefeiert.
Auf Jugendarbeit setzt man ebenfalls in Leipzig – auch mit Jungen und Mädchen, die halachisch nicht jüdisch sind. »Wir haben ein offenes Haus«, betont Gemeindechef Josif Beznosov. Schwierig ist es, dass die Gemeinde religiösen Familien aufgrund von fehlendem Angebot keine schulischen Perspektiven bieten kann. »Wir haben Familien verloren, weil sie in Gemeinden gezogen sind, wo es jüdische Schulen und Einrichtungen gibt.«
Ein Vorschlag ist, das Gemeindewahl-Alter auf 16 zu senken und damit die Jugend mehr in die Verantwortung einzubeziehen.
Rebecca Seidler beobachtet ein verstärktes »Gemeindehopping«. Jüngere Juden und jüdische Familien gingen dorthin, wo Gemeinden diversifizierte Angebote und eine attraktive Infrastruktur anzubieten hätten – für Kleinkinder, Kinder und Jugendliche: jüdische Grundschulen und Einrichtungen für höhere Schulbildung. »Die Kinder ziehen die Eltern«, betont Seidler. »Aber es geht auch darum, mit unserem Angebot ›jüdische Identität‹ zu stärken.«
WECHSEL Die Hannoveranerin sieht ihre Generation gefordert. »Wir müssen uns einbringen mit unseren Interessen.« Ein Generationswechsel, auch an den Spitzen der Gemeinden, werde gebraucht, »um die Modernisierung voranzutreiben und die Zukunft jüdischer Gemeinden zu garantieren«.
»Ein erster Schritt wäre«, glaubt auch Susanne Benizri, »das Wahlalter für den Gemeindevorstand auf 16 Jahre zu senken.« Und damit der Jugend »Zugang zu den Gremien zu verschaffen und sie mehr in die Verantwortung einzubeziehen«.
Über die Jugendarbeit werde die Bindung an die Gemeinde gestärkt, betont die Mutter von drei Kindern. »Junge Menschen wollen fühlen, dass sie ernst genommen werden und willkommen sind, auch ohne Beitrittsverpflichtung.« Und in diesem Zusammenhang sei es »ermutigend, dass junge Menschen an den Schlüsselstellen der überregionalen Strukturen Verantwortung übernommen haben«. Das sei ein gutes Zeichen.