An Pessach feiern wir den Auszug aus Ägypten, der die Juden vor dem Untergang bewahrte. Weder beim Kiddusch am Schabbat noch an allen von der Tora vorgeschriebenen Feiertagen darf die Erinnerung an den Auszug aus Ägypten fehlen, die l’dor vador – von Generation zu Generation – weiterzugeben ist, um unseren Glauben und unsere Tradition zu bewahren. Die Notwendigkeit des Erinnerns ist in keiner Religion so immanent wie im Judentum. Die Erinnerung erdet die jüdische Gemeinschaft. Sie verwurzelt uns in unserem Glauben – so fest, dass Religion und jüdische Lebensweise uns zur Heimat gereichen, wo immer das Schicksal uns hinverschlägt.
erinnerung Die Schoa ist eine der traumatischsten Erinnerungen in der Jahrtausende währenden Geschichte der Juden – eine beispiellose Leiderfahrung. Insofern gilt es in Europa nicht nur das religionsspezifische Gedächtnis an die Lehre zu pflegen. Wir müssen die gewachsene gesellschaftliche Erinnerungskultur an die jüngeren Generationen weitergeben. Eine Erinnerungskultur, die Juden und Nichtjuden in Europa gemeinsam erarbeitet haben und deren Ausgestaltung und Entwicklung noch längst nicht abgeschlossen ist.
Wir stehen an der Schwelle der Zeit, an der der Holocaust seiner Zeitgenossenschaft entschwindet. Eine Stunde Null hat es in der Geschichte nie gegeben. Und auch einen Schlussstrich wird es nicht geben. Die Erinnerung ist unkündbar. Die Erinnerung an die Vergangenheit wachzuhalten ist unerlässlich, weil sie uns ein sehr präzises Vermächtnis hinterlässt. Es lautet: Nie wieder! Kinder und Jugendliche fragen mitunter: »Was geht mich das noch an?« Diese jungen Menschen und ihre mitnichten rhetorisch gemeinte Frage müssen wir ernst nehmen und wahrhaft beantworten: Erinnern bedeutet nicht verordnetes Gedenken! Erinnern heißt verstehen. Niemand kann auf Befehl Betroffenheit zeigen, weil er gelernt hat, dass vor sechs Jahrzehnten in diesem Land Grausames geschehen ist.
verantwortung Wir müssen die Vergangenheit aufarbeiten, verstehen, uns bewusst machen, was passiert ist. Nur so sind wir in der Lage, daraus die richtigen Lehren für die Zukunft zu ziehen. Wir müssen verstehen, dass es eine Illusion war, zu glauben, der Zivilisationsprozess sei eine Einbahnstraße. Verstehen, in welche Katastrophe der Mensch selbst seinesgleichen stürzen kann. Diese Erkenntnis ist nur zu ertragen, wenn sie uns zu motivieren vermag, Verantwortung zu übernehmen. Es geht nicht um Schuld, nicht um Schande, nicht um Scham.
Es geht einzig und allein um Verantwortung – wie sie uns allen auferlegt ist. Wir tragen Verantwortung für ein friedliches Miteinander aller Menschen in unserer Gesellschaft. Für unsere Demokratie und für die in unserem Grundgesetz verankerten Werte und Freiheitsrechte. Diese Botschaft müssen wir den jungen Generationen in unseren Ländern mit auf ihren Lebensweg geben. Ihr Anteil an der Geschichte besteht in ihrem Anteil an der Verantwortung für Gegenwart und Zukunft.
solidarität Zu Gegenwart und Zukunft gehört auch Erez Israel. Wir sind glücklich und dankbar, dass es den jüdischen Staat als Heimat für uns alle gibt. Das bedeutet aber auch Verantwortung. Wir freuen uns über Zeichen der Solidarität, wie sie in der vergangenen Woche beim Gespräch zwischen den Regierungschefs Israels und Deutschlands in Berlin sichtbar wurden.
Die Eröffnung des israelischen Generalkonsulats in München unterstreicht die positiv gewachsenen Beziehungen. Doch verantwortlich sind wir gegenüber Erez Israel noch auf anderen Ebenen – mit der Unterstützung der Menschen, Organisationen und Einrichtungen. Wenn wir am Ende der Haggada sagen »Nächstes Jahr in Jerusalem« , denken wir besonders an Gilad Shalit, Guy Hever und Jonathan Pollard und bitten, dass dieser Wunsch für sie in Erfüllung gehen möge.
Pessach sameach vekascher! Die besten Grüße und Wünsche für ein frohes und koscheres Pessach.