Der Lavendel duftet beim Vorübergehen, obwohl er noch gar nicht blüht. »Hier sind die Johannisbeeren, die mein Enkel im Sommer gerne nascht«, sagt Betti Khaikiné und zeigt auf Sträucher, übervoll mit kleinen grünen Früchten. Die Bewohnerin des Nelly-Sachs-Hauses, dem jüdischen Elternheim in Düsseldorf, geht gerne in den Garten. Heute macht sie kleine Runden mit Dorothea Arnon, die seit gut einem Jahr hier wohnt. Die beiden 81-Jährigen gehen vorbei an Salbei, Thymian und Basilikum, an Kartoffel- und Tomatenpflanzen, Blumen. Was auf den ersten Blick wie ein liebevoll angelegter Nutzgarten aussieht, ist die durchdachte Anpflanzung eines Sinnesgartens. Über Duft, Berührung, visuelle und akustische Eindrücke kann die Wahrnehmung trainiert werden.
Betti Khaikiné, früher in Moskau Oberärztin der Neurologie, kam mit 64 Jahren nach Deutschland, seit vier Jahren lebt sie im Elternheim. Dorothea Arnon, geboren in Ostpreußen, über Dänemark nach Israel ausgewandert, wohnt seit den 60ern in Düsseldorf. Lebensläufe, die sich im Nelly-Sachs-Haus treffen. Den Frauen war es zu Hause zu beschwerlich geworden.
Trend Vor 40 Jahren erbaut im Rahmen eines Hotelbetriebs gab es im Nelly-Sachs-Haus anfangs rund 80 Plätze für die Eltern der zurückgekehrten Gemeindemitglieder. Heute, nach einem Umbau Ende der 90er- Jahre, sind 110 Plätze belegt. »Dabei haben wir einen Paradigmenwechsel mitgemacht«, meint Bernd Römgens, der gemeinsam mit Peter Hahn das Nelly-Sachs-Haus leitet. Der Trend, spät ins Heim zu gehen, sei allgemein, ergänzt Peter Hahn. In den letzten Jahren werde die ambulante häusliche Pflege präferiert. Für das Düsseldorfer Elternheim hieß das eine Umstellung auf deutlich mehr Pflegefälle, der man versuchte durch eine Anpassung der Infrastruktur gerecht zu werden. »Nur so konnten wir die Versorgung von schwerst pflegebedürftigen Bewohnern und solchen mit demenzieller Erkrankung gewährleisten«, sagt Hahn.
Die Aufstockung von Etagen und ein neuer Anbau schufen Platz für wichitge Funktionsbereiche wie Schwesternzimmer oder Essensräume auf den Stationen, denn für etwa zwei Drittel der Bewohner ist es zu beschwerlich oder unmöglich den Speisesaal im Erdgeschoss besuchen. Um die Bäder auf den Zimmern rollstuhlgerecht zu gestalten, wurden Balkone zu Wohnraum umfunktioniert.
An solch einen Balkon erinnern die bodenlangen Fenster in dem Zimmer von Dorothea Arnon. Ein Raum mit schlichten Möbeln, ein Tisch, ein bequemer Sessel, eine braune Schrankwand. An dessen Türen hat Dorothea Arnon selbst gemalte Bilder geklebt. Ein lachender Clown, Blumen und ein Apfelbaum. Ihr neuntes Urenkelkind wird bald geboren. Eine große Familie, verteilt auf der Welt, konzentriert auf den Fotocollagen an den Wänden. Die eigenen Möbel seien zu groß gewesen für den Raum und sie habe auch nicht daran gehangen.
»Durch unsere Auswanderung nach Israel kenne ich das, nur mit einem Koffer ankommen.« Dass sie sich trotzdem schnell zu Hause fühlte, habe an der herzlichen Aufnahme gelegen. Dorothea Arnon kannte das Elternheim, weil sie vorher in der Nachbarschaft wohnte und sie bereits zum Mittagsessen hierher kam. Gerne geht sie zu den religiösen Angeboten und Gottesdiensten, die regelmäßig im Haus stattfinden. Und eine ehemalige Nachbarin aus Israel wohnt jetzt wieder über den Gang.
Sonnenschirm Auf der Terrasse vor dem Speisesaal werden Tische zusammengerückt. Nach und nach setzen sich acht Menschen. Ein großer, roter Sonnenschirm spendet Schatten. Es ist das nachmittägliche Treffen der Activity Group.
So heißt eine Gruppe von demenziell erkrankten Bewohnern, die erst wenige motorische Einschränkungen haben. Ziel sei es, der getriebenen Unruhe, wie sie bei dieser Erkrankung häufig vorkomme, alternativ zu begegnen, erklärt Römgens. Versucht wird dies über feste Rituale, wie gemeinsames Essen und regelmäßige Treffen, gleichzeitig durch ein Maß an Flexibilität und den Versuch, Selbstständigkeit zu bewahren.
Andreas Röken, Ergotherapeut und Leiter des Sozialen Dienstes, führt einen Mann zu einer an Pflöcken aufgehängten Holztafel. Vorsichtig setzt sich der Mann davor auf einen Stuhl. Seine Augen sind verbunden. Behutsam streicht er über die harten Borsten eines Schrubberaufsatzes, die Kühle der Aluschale, die weiche Oberfläche eines Staubtuchs. Seine Hand verweilt.
Alltagsgegenstände werden genutzt, um Sinne zu aktivieren und dadurch Fähigkeiten zu erhalten oder zu fördern. »Wir haben festgestellt, dass der taktile Bereich noch enorm ist bei demenziell Erkrankten«, erklärt Andreas Röken, nachdem er den Mann zurück an den Tisch geführt hat. Wie sich etwas anfühle, angenehm oder grob, weich oder glatt, sei oft hilfreicher als das Anschauen. Über die Berührung kommen Gedanken, vielleicht.
Bingo Am späteren Nachmittag sind immer noch einige Tische besetzt in der Caféteria im Eingangsbereich. Dorothea Arnon stellt ihren Rollator ab und setzt sich zu zwei anderen Frauen. Tee gibt es, Kaffee und Kuchen, Eis. Hier treffen sich Heimbewohner, aber auch Besucher von außen. Links in der Ecke steht ein Computer mit Internetanschluss. Irith Fröhlich, eine Frau aus der Gemeinde, die am Nachmittag die Bingo-Runde mitorganisiert hat, guckt schnell noch etwas im Internet nach, bevor sie ihren Sohn besucht, der auf Station 3 arbeitet.
»Wir sind sehr froh, dass wir viele ehrenamtliche Helfer aus der Gemeinde haben«, betonen die Heimleiter Hahn und Römgens. Auch zum Jubiläumsfest am 30. Juni werden etliche Gäste aus der Gemeinde kommen. Musik, Reden, Beisammensein und Erinnerung an 40 Jahre »Nelly«, wie das Elternheim genannt wird.