Keine Selbstverständlichkeit, dass ein jüdischer Gemeindefunktionär so etwas einem Kollegen oder einer Kollegin zuruft: »Du bist immer ein jüdischer Mensch gewesen!« So fasst Abraham Lehrer, Vorsitzender der Zentralwohlfahrtsstelle und Vizepräsident des Zentralrats der Juden in Deutschland, die Lebensleistung von Hanna Sperling zusammen.
Die Vorsitzende des Landesverbandes der Jüdischen Gemeinden von Westfalen-Lippe wurde am Sonntag im Festsaal der Jüdischen Gemeinde Dortmund feierlich verabschiedet – mit allem, was zu einem solchen Anlass gehört, Gästen von nah und fern, schönen Ansprachen, gutem Essen, musikalischen Einlagen vom Chanson der 20er-Jahre bis zur Chasanut; und vor allem mit Ruth Prinz, die ein Vierteljahrhundert als Geschäftsführerin zusammen mit ihrer Freundin und ehrenamtlichen Chefin Hanna den westfälischen Landesverband prägte. »Danke« stand in goldenen Großbuchstaben über dem Rednerpult, darunter »Rentner 2019«: Denn das Duo Prinz/Sperling ist gemeinsam in den Ruhestand getreten.
»Danke« stand in goldenen
Großbuchstaben über dem Rednerpult, darunter »Rentner 2019«.
Einsatz Was das mit dem jüdischen Menschen eigentlich heißt, hatte vor Abraham Lehrer Zentralratspräsident Josef Schuster ausgeführt: Einsatz für sozial Schwache und Problembeladene, grenzenlose Liebe zu Israel, persönliche Bescheidenheit, Sorge um die Einheit unserer Gemeinschaft unter Einschluss von Orthodoxen und Liberalen, Oldtimern und Zugewanderten.
Mehr als 15 Jahre amtierte Hanna Sperling neben ihrem Amt in Westfalen auch als Präsidiumsmitglied des Zentralrats der Juden. Schuster, der Sperling und Prinz seit Jugendtagen kennt – und die Herkunft aus kleinen Gemeinden hat die drei immer verbunden –, rühmt die »Frauenpower« im westfälischen Landesverband, aber: »Hanna, du warst nie eine Emanze.« Von Konflikten in den jüdischen Gremien Westfalens im vergangenen Vierteljahrhundert sei so gut wie nichts zu berichten – keine Selbstverständlichkeit in anderen jüdischen Gemeinden und Verbänden.
Landesrabbiner
Henry G. Brandt
war eigens angereist.
Eine »Oase des Friedens« hat der frühere Landesrabbiner Henry G. Brandt einmal den westfälischen Landesverband genannt. Jetzt war er mit seinen 91 Jahren aus Augsburg eigens angereist – wohl auch, um seinen vergleichsweise jugendlichen Freundinnen Ruth und Hanna zu signalisieren, dass sie dem kommenden Lebensabschnitt zuversichtlich entgegengehen können.
Oase Die westfälische Oase des Friedens ist auch eine Oase der Stabilität. Schuster verwies darauf, dass der Landesverband in den vergangenen 55 Jahren nur zwei Vorsitzende hatte, und erinnerte an Kurt Neuwald, Sperlings Vorgänger, der Ruth und Hanna in jungen Jahren für jüdische Ämter rekrutiert hatte. Und dass Frieden und Stabilität mit dem Ausscheiden der beiden Frauen nicht zu Ende gehen – das versprach Zwi Rappoport. Der Dortmunder, seit langen Jahren Sperlings Stellvertreter und jetzt ihr Nachfolger, rühmte ihre »tolle charismatische Ausstrahlung« und in einem Atemzug die Geschäftsführerin Prinz als »Zuverlässigkeit in Person« und »inoffizielles weiteres Vorstandsmitglied«.
Rappoport enthüllte aber auch endlich, dass es in dem so harmonischen Landesverband vor vielen Jahren einmal richtigen »Zoff« gegeben hatte, zwischen Hanna Sperling und Ruth Prinz: nämlich über die Frage, wo im gemeinsamen Büro der Schreibtisch stehen sollte. Doch das wurde – natürlich – längst friedlich geklärt. Sodass Ruth von diesem Schreibtisch aus erfolgreich den Laden schmiss, den Hanna führte. Das waren lange Zeit neun Gemeinden, inzwischen sind es zehn, und im östlichen Ruhrgebiet gibt es heute mehr jüdische Gemeinden als Bundesligavereine.
kontinuität Aber hinter dieser Harmonie und Kontinuität vollzog sich in der Ära Sperling/Prinz natürlich ein kolossaler Wandel. 1989 hatten die westfälischen Gemeinden insgesamt 743 Mitglieder, waren überaltert und schrumpften durch Abwanderung. Heute sind es um die 7000 Juden in den westfälischen Gemeinden – 90 Prozent davon Zuwanderer aus der früheren Sowjetunion und deren Kinder. Doch die Institutionen haben überdauert, gerade wegen des Zusammenspiels so verschieden geprägter Alteingesessener wie Sperling und Prinz.
Im Osten des Ruhrgebiets
gibt es mehr jüdische Gemeinden
als Bundesligavereine.
Hanna Sperling, als Kind osteuropäischer KZ-Überlebender in Tel Aviv geboren, kam als Vierjährige nach Dortmund – und ist seitdem fest im westfälischen Teil des Ruhrgebiets verwurzelt. Fast schon exotisch, dass ihr viel zu früh verstorbener Ehemann Jakob aus Essen kam, also der rheinländischen Hälfte des Ruhrgebiets, gar nicht exotisch, dass ihre Tochter Miriam mit Familie in Israel lebt. Sie verkörperte schon immer mit Leib und Seele die Israel-Orientierung der hiesigen jüdischen Gemeinschaft.
landjudentum Und Ruth Prinz? Kindheit und Jugend im sauerländischen Lennestadt machten sie zur authentischen Erbin der großen Tradition des deutschen Landjudentums, Besuche bei den Verwandten in Chicago zur lebenden Brücke zur größten jüdischen Diasporagemeinschaft unserer Zeit. Und aus Amerika hat sie den Wahlspruch »Keep it short and simple« nach Westfalen mitgebracht. »Mach es kurz und einfach« – das wurde bei der Abschiedsfeier immer wieder lobend zitiert, gerade wenn der jeweilige Redner zu langatmigen und komplizierten Sprüchen ausholen wollte.
Um es im Sinne von Ruth Prinz kurz und bündig zu sagen: Bei den westfälischen Juden stehen die Zeichen auf weitere Jahre der Kontinuität. Der neue Geschäftsführer in der Nachfolge von Ruth Prinz ist Sascha Sperling, und der ist dank seiner Mutter Hanna im Landesverband groß geworden.