Schon sein Gang wirkt dynamisch. Schwungvoll ist Rabbiner Tovia Ben-Chorin in den vergangenen sechs Jahren von seiner Charlottenburger Wohnung zur Synagoge Pestalozzistraße und zum Gemeindehaus hin und zurück gelaufen; er durchquerte die jüdischen Schulen, Kindergärten, alle Berliner Synagogen und das Kunstatelier Omanut für behinderte Menschen.
Ben-Chorin ist zwar 78 Jahre alt, aber seine Neugierde kann nicht gebremst werden. Zum Glück. Der liberale Rabbiner liebt es, in einen Dialog zu treten. Ob mit anderen Juden, Moslems, Christen, Studenten, Betern oder Soldaten in einem schweizerischen Zug – er mag es, sich mit so ziemlich jedem zu unterhalten. Nur kurze Gespräche sind nicht seine Sache. »Ich möchte alles immer ganz genau wissen. Das Leben ist hochinteressant.«
Vorfreude Nun freut er sich auf seine neue Aufgabe, die er im Juli in St. Gallen in der Schweiz übernehmen will: Er wird dort Rabbiner einer kleiner Gemeinde, zu der – laut Ben-Chorin – eine der schönsten Synagogen gehört, die mittlerweile mehr als 150 Jahre alt ist.
»Als feststand, dass ich nicht weiter als Gemeinderabbiner in der Synagoge Pestalozzistraße amtieren kann, da mein befristeter Vertrag auslief, war ich nicht erfreut, aber alles geht einmal zu Ende«, sagt der 78-Jährige. Er werde seine Beterschaft vermissen. Und auch, dass er nun nicht mehr in dieser Synagoge predigen kann. Das Dialogische zwischen den Betern und dem Synagogenvorstand werde ihm ebenfalls fehlen. Auch die Begegnungen in Berlin mit Juden und Nichtjuden und die Diskussionen der Mitglieder vom »House of One«, die ein interreligiöses Haus am Petriplatz planen.
Aber statt dem Vergangenen nachzutrauern, möchte er sich lieber auf die Zukunft freuen, wie es ihm seine Lebenseinstellung vorgibt. Seine Möbel nimmt er mit, viele seiner Bücher indes stiftet er dem Abraham Geiger Kolleg in Potsdam, wo er seit vielen Jahren Dozent ist. Ab April wird dann Rabbiner Jonah Sievers sein Nachfolger in der Pestalozzistraße.
Familie Als Ben-Chorin vor sechs Jahren gemeinsam mit seiner Frau Adina nach Berlin kam, habe er sich neu entdeckt, berichtet er. Oft musste er an seinen Vater denken, denn er ist in einem jeckischen Haus in Jerusalem groß geworden. Sein Vater, Fritz Rosenthal, später Schalom Ben-Chorin, war ein Journalist und Religionswissenschaftler, der aus München vor den Nazis geflohen war und nach Palästina emigrierte.
In seinem Haus in Jerusalem lebte ein chassidischer Mann als Untermieter, die Köchin war eine sefardische Jüdin, die mit Tovia als Kind Schabbat feierte, und die Nachbarn waren arabisch. Den Weihnachtsbaum sah er bei Christen ein paar Straßen weiter. Ben-Chorin hat dafür ein Wort: Dialog. Dass er das von seinen Eltern erleben und lernen durfte, dafür sei er heute noch dankbar.
Er wirkt optimistisch, so, als ob ihm alles leicht fiele im Leben. »Aber ich kenne auch Sorgen und Minderwertigkeitskomplexe.« Als er ein kleiner Junge war, trennten sich seine Eltern. Sie respektierten sich jedoch weiter, sodass sie nach dem Scheidungsurteil erst einmal zusammen einen Kaffee trinken gingen. Zuerst lebte Ben-Chorin bei seinem Vater. Als dieser wieder heiratete, durfte der damals Sechsjährige bei der Hochzeit nicht dabei sein, was ihn heute noch etwas ärgert.
respekt Mit elf Jahren beschloss er, zu seiner Mutter zu ziehen und die Wochenenden bei seinem Vater und dessen neuer Frau zu verbringen. Sein Vater war religiös, seine Mutter hingegen eher nicht. An einem Freitagabend war er einmal zu Hause bei seiner Mutter und richtete alles für Schabbat her; sie hingegen saß an einem Tisch und zeichnete – was er nicht nachvollziehen konnte. »Respektiere du meins, ich respektiere deins!«, sagte sie ihm entschieden – eine Lektion fürs Leben.
Über seine Zeit als Schüler sagt Ben-Chorin: »Ich war kein guter Schüler, aber auch kein Depp.« Er lebte in der Welt der Fantasie, beim Essen wurde die Gabel zu einem Schiff, die Striche auf der Tischdecke zu Flüssen. Nach der Schule kam seine Militär- und Studienzeit an der Hebräischen Universität Jerusalem und schließlich am Hebrew Union College–Jewish Institute of Religion Cincinnati, wo er zum Rabbiner ordiniert wurde.
In drei Kriegen war er in der Panzerabwehr im Einsatz. Einmal schlug er seinem Vorgesetzten vor, Schabbat zu feiern. Könne er machen, war dessen Antwort. Daraufhin lud Ben-Chorin ins Synagogenzelt ein, nahm Konservenbüchsen, Benzin und Sand und sorgte so für die Kerzen. Mehr als 40 Soldaten kamen. »Das hat mir Mut gegeben«, erinnert er sich heute an diese Zeit.
international Nach diesem Gottesdienst beschloss er, Rabbiner in einer Gemeinde zu werden. Später wirkte er als Rabbiner in Ramat Gan, Manchester, in der Har-El-Gemeinde in Jerusalem und in der Gemeinde Or Chadasch in Zürich. Außerdem war er Leiter der israelischen liberalen Jugendbewegung und gehört zu den Gründern des Kibbuz Lotan im Negev.
Für ihn muss Religion vor allem lebbar sein, betont Ben-Chorin. Sie sollte sich dem Alltag anpassen und etwas Dynamisches haben, sonst werde sie fundamentalistisch.
Über die Jüdische Gemeinde zu Berlin sagt er, dass sie vor etlichen Herausforderungen stehe, die es zu meistern gelte. Er findet es wichtig, dass die Gemeinde möglichst viele der rund 30.000 Israelis in der Stadt an sich bindet.
»Ich sehe Arbeit nicht als Arbeit«, erklärt er. Der Ruhestand sei kein Thema für ihn. Bei einem Gelehrten habe er einmal gelesen, dass man als Rabbiner erst dann aufhört, »wenn du nicht mehr brauchst, gebraucht zu werden«. In seiner Familie seien viele alt geworden, das liege wohl an den Genen. Demnächst will er seine Stiefmutter zu ihrem 92. Geburtstag mit seinem Besuch in Israel überraschen.
liebe Aber etwas ruhiger will Ben-Chorin es demnächst dann doch angehen: »Ich möchte mehr mit meiner Frau Adina zusammen sein, jeder Tag ist ein Geschenk.« Seit mehr als 50 Jahren sind sie nun zusammen, haben zwei Kinder und fünf Enkelkinder. »Man braucht eine gute Partnerschaft, sonst verbittert man.« Zusammen wollen sie viel im Wald spazieren gehen und das Leben genießen.
Wichtig ist ihm auch, weiter das jüdische Leben in der Schweiz zu erkunden. Er ist ein großer Freund des Synagogen-Hopping und besucht gerne auch einmal einen orthodoxen Gottesdienst. »Schade, dass wir Rabbiner untereinander nicht viel mehr Austausch haben«, sagt er. Auch das hat er sich auf seine Agenda in der Schweiz gesetzt: den Dialog unter den Rabbinern in Gang bringen. Man kann davon ausgehen, dass Tovia Ben-Chorin auch diese Aufgabe dynamisch in Angriff nehmen wird.