Die Zeit arbeitet gegen Angelika Rieber und ihre Vereinsfreunde. Die Menschen, deren Schicksal und Lebensgeschichte die Frankfurter seit Jahren durch Gespräche und Besuche dokumentieren, sterben. Bald wird es keine Zeitzeugen mehr geben, die über ihre Kindheit, Ausgrenzung, Vertreibung, Holocaust oder das neue Leben in der Emigration berichten können. »Aber wir wollen ihnen auch in Zukunft eine Stimme geben«, sagt die Vorsitzende.
Seit 1984 begleitet der Verein »Jüdisches Leben in Frankfurt« die Besuche ehemaliger jüdischer Frankfurter und seit Neuestem auch die ihrer Kinder in der Stadt am Main. Die Erinnerungsarbeit verändert sich. Rieber und der Verein geben darauf eine digitale Antwort: Mit einer neuen Website wollen sie den Dialog und die Spurensuche für künftige Generationen fortsetzen. Ein Angebot, das sich an Überlebende, ihre Nachfahren, aber vor allem an Schulen richtet. Bei Schülern scheint das Internetmaterial einen Nerv getroffen zu haben.
Gymnasium »Das ist endlich mal was anderes, als Bücher zu lesen«, sagt Janine F. da Costa. Die Oberstufenschülerin besucht das Ziehen-Gymnasium in Frankfurt. Ganze sechs Unterrichtsstunden lang haben sie und ihre Mitschüler sich mit der neuen Website www.juedisches-leben-frankfurt.de befasst. Janine und die Jahrgangstufen von vier Schulen in Frankfurt und der Region haben das pädagogische Angebot der Seite im Unterricht ausprobiert, bevor die Seite online ging.
»Unser Unterricht war plötzlich viel interessanter«, sagt Mitschüler Bodo Bastian. »Es ist halt ganz anders, wenn es um Menschen geht, die im Viertel nebenan gewohnt haben«, findet Janine. Die Beispiele aus der Nachbarschaft bewegen. »In der Klasse war es still, alle haben konzentriert gearbeitet. Es war sehr emotional«, berichten beide. »Ich habe sogar nach der Schule noch auf der Website weitergelesen«, so Bodo.
Gefesselt haben die 28 Biografien, die Angelika Rieber und der Verein bisher auf der Website eingestellt haben. Die Familiengeschichten stehen im Mittelpunkt der neuen Internetplattform – wie das von Renata Harris, die 2012 erstmals in ihre alte Heimat Frankfurt zurückkehrte. Sie hatte 1939 mit einem Kindertransport Deutschland verlassen können.
Heimat Dem Vater, Alfred Adler, war nach seiner Freilassung aus Buchenwald ebenfalls die Flucht nach England gelungen. Ihre Mutter Adelheid jedoch wurde 1942 deportiert und ermordet. »Wir waren sehr überrascht«, sagt Janine, »wie sehr die Menschen dennoch mit ihrer Heimat verbunden sind. Ich wüsste gar nicht, ob ich das könnte.«
Schüler, Angehörige, aber auch Forscher oder Lehrer können sich auf die Spurensuche begeben. Die 28 Schicksale sind nur der Anfang, sagt Rieber. »Wir haben noch Hunderte weitere, die aufgearbeitet und demnächst auch online gestellt werden.« Dabei soll es um das jüdische Leben insgesamt in Frankfurt gehen, nicht nur um Vertreibung und Ermordung.
Vielfalt Es ist dem Verein, aber auch der Stadt wichtig, so Frankfurts Kulturdezernent Felix Semmelroth, die Vielfalt darzustellen, und welchen Anteil jüdische Familien damals wie heute am Aufbau der Stadt, der Gesellschaft, Universität oder auch der vielen wissenschaftlichen Institutionen hatten.
Juden sollen auf der Internetplattform nicht nur auf die Opferrolle reduziert sein. Das betont auch Christoph Stillemunkes, Referatsleiter im hessischen Kultusministerium. Das Land Hessen unterstützt das Projekt ebenso wie die Stiftung »Erinnerung, Verantwortung und Zukunft« im Rahmen des Leo-Baeck-Programms.
Links Die Lebensgeschichten, der Dialog mit der zweiten Generation und das pädagogische Angebot sind nachzulesen in deutscher und englischer Sprache. Das ist laut Angelika Rieber nötig, damit ehemalige Frankfurter und ihre Kinder im Ausland einen Zugang zu der Website finden. Zudem ist die Seite mit Museen, Archiven und Initiativen in und um Frankfurt verlinkt.
Fast 60.000 Klicks zählt die Seite in der kurzen Zeit, seit sie online gegangen ist. Ein großes Interesse, das auch Katja Walther, Geschichtslehrerin der Heinrich-Heine-Gesamtschule in Frankfurts Nachbarstadt Dreieich, bei ihren Schülern wahrgenommen hat. »Durch die Französische Revolution musste ich sie fast prügeln, aber hier waren sie intensiv dabei. Das Interesse hat sich verzehnfacht.«
Demnächst will sie den Besuch einer Gedenkstätte organisieren. Früher haben sich dafür zehn oder 15 Schüler gemeldet. »Jetzt wird ein Schulausflug daraus«, berichtet sie.