Rostock-Lichtenhagen

20 Jahre danach

Rostock war eine beschauliche Stadt an der Ostsee. Bekannt für ihren Hafen, lange Ostseestrände und die Bundesligamannschaft FC Hansa. Bis zum Sommer 1992. Am 22. August änderte sich schlagartig alles: Randalierer attackierten in Lichtenhagen die Zentrale Aufnahmestelle für Asylbewerber.

Aus einer Masse von 3.000 aufgebrachten Menschen, darunter organisierte Neonazis, zum Teil aus Hamburg und Lübeck angereist, griffen etwa 200 Jugendliche und Erwachsene zur offenen Gewalt, warfen Scheiben ein und griffen Polizisten an. »Ausländer raus!«- und »Deutschland den Deutschen!«-Rufe hallten durch die Plattenbausiedlung. Die Polizei war heillos überfordert, Streifenwagen gingen in Flammen auf. Die Bilder aus dem Stadtteil im Nordwesten Rostocks gingen um die Welt.

Juri Rosow, Vorsitzender der Jüdischen Gemeinde Rostock, kann sich gut an die Ereignisse erinnern. Zwar habe er damals noch nicht in der Hansestadt gelebt, die Bilder kannte aber auch Rosow aus dem Fernsehen. »Als ich 1996 herkam, wollten wir uns deutlich von den Ereignissen in Lichtenhagen abgrenzen«, sagt der 51-Jährige. »Es ging uns nichts an. Die Gewalt hatte sich damals nicht gegen uns Juden gerichtet.« Aber auch die jüdische Gemeinde kam an dem Thema nicht vorbei, denn immerhin hatten die Ereignisse von Lichtenhagen Rostock zum Inbegriff einer ausländerfeindlichen Stadt gemacht.

Friedhofsschändung »Zu Unrecht«, wie Gianna Marcuk meint. Sie lebte zur Zeit der Ausschreitungen schon in Rostock. »Ich liebe diese Stadt«, sagt die gebürtige Moldawierin. Sie habe damals wie heute keinerlei Befürchtungen gehabt. »Wir Juden waren nicht die Zielgruppe und daher hatten wir auch keine Angst«, erklärt die 45-Jährige. Mittlerweile leitet Gianna Marcuk die Rostocker Zweigstelle der Zentralen Wohlfahrtsstelle der Juden in Deutschland.

Durch die Arbeit ist sie in ständigem Kontakt zu Juden, ob Gemeindemitglieder oder nicht. Marcuk engagiert sich mit ihnen dafür, in möglichst vielen Netzwerken vertreten zu sein. Mit Erfolg: »Stadt und Land unterstützen uns. Wenn wir Konzerte geben, kommen nicht nur Juden.« Auch die Gemeinde werde von interessierten Nicht-Juden besucht.

Nur an eine negative Erfahrung in der Region kann sich Gianna Marcuk erinnern. »Als 2001 jüdische Friedhöfe geschändet wurden. Das war schlimm. Eines der Gräber war das meiner Mutter«, sagt sie mit verständnislosem Blick. »Aber deswegen habe ich keine Angst, in Mecklenburg-Vorpommern zu leben«, fügt die Mutter zweier Kinder hinzu.

Gewalt In den Augusttagen 1992 eskalierte die Gewalt. Am 23. August wurde ein Wohnheim für Vietnamesen gestürmt. Die Polizei kämpfte gegen mehr als 1.000 gewaltbereite Angreifer an. Nachdem die sich zurückgezogen hatten, schien sich die Lage zu beruhigen.

Ein Trugschluss: Am 24. August, über 100 Menschen befanden sich noch im Gebäude, zündeten sie das Hochhaus mit den in die Fassade eingearbeiteten großen Sonnenblumenbildern an. Erst unter Polizeischutz konnte die Feuerwehr den Brand löschen – über eine Stunde, nachdem er ausgebrochen war.

Die Eingeschlossenen, größtenteils Vietnamesen, harrten in den oberen Stockwerken aus. Gemeinsam mit einem ZDF-Fernsehteam und Wolfgang Richter, dem damaligen Ausländerbeauftragten der Stadt. Alle zusammen bahnten sich einen Weg bis zum Dach und entkamen so aus dem brennenden Haus. »Wir hatten damals Angst um unser Leben«, sagte Wolfgang Richter später der Rostocker Ostsee-Zeitung.

Integration Seit nunmehr 20 Jahren lebt und arbeitet Gianna Marcuk, die die jüdische Gemeinde mitbegründete, in Rostock. »Wir sind sehr gut integriert«, sagt sie. »Wir Juden können uns offen zeigen.« Die Stadt stehe für mehr als nur für Lichtenhagen und das »Sonnenblumenhaus«. Juri Rosow pflichtet ihr bei: »Es ist tragisch, dass man Rostock ständig mit den Ereignissen von 1992 in Verbindung bringt.«

Gemeinsam erinnern sich Gianna Marcuk und der Gemeindevorsitzende an die vielen öffentlichen Veranstaltungen, bei denen die Rostocker gezeigt hätten, wie wohl sich Juden in ihrer Stadt fühlen können. »Als die Gemeinde umgezogen ist, haben wir das in den Straßen sichtbar zelebriert«, erinnert sich Marcuk und zeigt dabei auf ein Foto mit traditionell gekleideten Juden inmitten der Innenstadt.

Offenheit und Gemeinsamkeit in Rostock: Auch für jüngere Juden ein selbstverständliches Gefühl. So trainiert Alexander Bondar (31) im jüdischen Turnverein Makkabi und als Landestrainer in Schwerin jüdische und nichtjüdische Sportler. »Seit ich 1996 nach Rostock gekommen bin, fühle ich mich wohl und sicher«, erzählt der junge Mann, der aus der Ukraine stammt. Seine Klassenkameraden hätten ihm damals erzählt, was in Lichtenhagen passiert war. »Und jeder warnte mich vor den Nazis«, erzählt Bondar. »Ich habe mich auf die Suche nach dem Nazi gemacht, bis ich feststellte, dass es den Prototypen gar nicht gibt.« So wie es auch nicht den klischeehaften Juden gebe.

Verharmlosen wolle aber gerade die junge Generation, zu der neben Alexander Bondar auch Yan Shymshilashvili gehört, die Parolen und Ansichten der Nazis nicht. »Sie sind präsent. In meiner alten Klasse gab es welche«, erzählt der 19-jährige Yan. Daneben sei die NPD im Landtag ein Problem – auch für das Image des Landes. Für die beiden jungen Männer wäre es ein wichtiges Zeichen, wenn die Partei endlich verboten würde.

Warnungen Bereits vor den Ereignissen im August 1992 hatte es von verschiedenen Seiten Warnungen gegeben, dass die Situation in Lichtenhagen eskalieren könnte. Wegen Überfüllung der Aufnahmestelle für Asylbewerber kampierten etwa 400 Asylsuchende auf Wegen, Wiesen und vor Hauseingängen. So kurz nach der Wende eine Situation für die Rostocker, mit der sie nur schwer umgehen konnten.

Der Sinn für Ordnung traf auf chaotische Verhältnisse. Hinzu kam der eigene Frust über Arbeitslosigkeit und schlechte Zukunftsperspektiven. »Die Behörden und die Polizei, die waren damals hilflos. Das war das Schlimme«, sagt Juri Rosow. Niemand solle die Randale vergessen, sagt er. »Aber Rostock ist schön, und es wäre ein falsches Bild, es nicht so zu sehen.«

Die Angriffe fanden vom 22. bis 26. August 1992 statt. Häufig wurden sie als »Pogrom« bezeichnet. Als Ignatz Bubis, der damalige Präsident des Zentralrats der Juden in Deutschland, die Stadt besuchte, fragte ihn der Rostocker Bürgerschaftsabgeordnete Karlheinz Schmidt (CDU): »Sie sind deutscher Staatsbürger jüdischen Glaubens, Ihre Heimat ist Israel. Ist das richtig so?«, worauf Ignatz Bubis entgegnete: »Sie wollen mit anderen Worten wissen, was ich hier eigentlich zu suchen habe?« Im Zuge der Aufarbeitung der Ereignisse in Lichtenhagen wurde Landesinnenminister Lothar Kupfer (CDU) im Februar 1993 aus seinem Amt entlassen, im November trat Rostocks Oberbürgermeister Klaus Kilimann (SPD) zurück.

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