1400 Juden, vier Tage lang unter einem Dach: Kann das wirklich gut gehen? Und wie, meint unsere Autorin Adriana Altaras. Eine Liebeserklärung - und ein Rückblick in Bildern.
Dass der Gemeindetag etwas Besonderes ist, brauche ich hier wohl nicht ernsthaft erklären. Erstens geht der Tag über vier Tage, zweitens ist er gespickt mit Jüdinnen und Juden aus allen Gemeinden Deutschlands. Ein Fest!
Hochemotionale Streitgespräche. Darf es Gen-Manipulation geben? Künstliche Intelligenz und Judentum: Was sagen unsere Weisen? Was sagt die Halacha dazu? Diese und viele andere Themen. Argumente und Gegenargumente. Man streitet. Weint. Lacht. Und verträgt sich wieder. Vielleicht. Hoffentlich.
Ich erinnere mich noch sehr gut an Hamburg, im Atlantic Hotel, das sich plötzlich recht koscher gab. Schwere hölzerne Drehtür, eine dunkle Empfangshalle, dahinter hebräische Gesänge. Die Türen zu zwei angrenzenden Sälen standen offen, der Schabbat-Gottesdienst zweier konkurrierender Kongregationen fand parallel statt. Ein dicker ungarischer Bass befand sich im Wettstreit mit seinem liberalen Kollegen, einem Kantor, dessen Tenorstimme mühelos das hohe C erwischte.
Beide hatte ihre Gemeinde längst abgehängt, die »Braut Schabbat« wurde mit großer Hingabe angebetet, jeder für sich und mit wachsendem Eifer: »Komm, mein Freund, der Braut entgegen … Lecha dodi.« Es ging vor allem um Lautstärke und Ausdauer.
An der Rezeption standen verunsicherte Blondinen. Eine Schar Kinder hatte das Foyer in Besitz genommen, die Jungs trugen kleine Kippot und Schläfenlocken, Mütter mit verrutschtem Scheitel rannten hinter ihren tobenden Töchtern her. Jüdisches Leben im Hotel Atlantic, schon allein dafür hatte sich die Reise gelohnt.
Einige Hotelgäste hatten Kontakt zu den »Fremden« aufgenommen. Ich hörte, wie eine junge Orthodoxe einer anorektischen Hanseatin die Bedeutung des Scheitels erklärte. Ein kleines Mädchen sang einem älteren Pärchen ein Chanukkalied vor. Ich war entzückt. Ich erinnere mich an den letzten Gemeindetag in Berlin. Weil Schabbat war, gab es kein Mikrofon für die Vorträge und Diskussionen.
Der kleine, gedrungene Rabbiner brüllte, was das Zeug hält, und war weit über die Stadtgrenzen hörbar, sein Thema: Übertritt, Konversion. Es ging um patrilineare Juden, der Saal war voll, die Diskussion aufgeladen. Der Rabbiner bemühte das Alte Testament, aber eine befriedigende Lösung lieferte das Buch auch nicht, was mich ehrlich wunderte, weil man dort für so ziemlich alles eine Begründung finden kann. Ich sah den Mann sich winden. Es folgten immer mehr gut gemeinte Ratschläge aus dem Publikum.
Und ich erinnere mich, wie abends vor dem großen Ball unsere Politiker kamen, nach Josef Schuster sprach Robert Habeck, wir fühlten uns aufgehoben und wohl und waren sicher, ein Teil der Gesellschaft zu sein. Ja, wir tanzten die halbe Nacht, sangen lauthals mit und verabschiedeten uns am Sonntag voreinander, heiser und müde und sehr zufrieden. Wir hatten viel miteinander verhandelt, »wenig« über Antisemitismus gesprochen. Es ging um uns. Nicht so sehr um die »anderen«. Ich dachte wirklich damals, es wird besser, vielleicht sogar alles gut.
Und jetzt ist wieder Gemeindetag. Und alles ist ganz anders gekommen, und ich bin extra angereist für diesen Tag, weil ich ihn brauche – so wie 1399 andere Juden auch. Selten brauchten wir diesen Gemeindetag wie dieses Jahr. Selten war er so wichtig wie dieses Jahr. Nicht, dass ich glaube, wir könnten eine Lösung für den Nahostkonflikt finden. Aber wir können zusammen sein. Wir können sprechen und so das ohrenbetäubende Schweigen unserer Umgebung brechen, das uns mehrere Wochen begleitet hat.
Und sprechen können wir. Gleichzeitig am allerbesten! Wir können uns trösten, wir können zuhören.
Ich habe in einem Artikel aus Israel über Traumata-Bewältigung gelesen, dass es wichtig, so wichtig ist, sich einander zu stützen. Da zu sein. Zuzuhören. Auch wenn man keinen Ausweg, keine Lösung parat hat. Es ist wichtig, in den ersten Tagen, und es bleibt wesentlich, auch wenn man hofft, es allein zu schaffen.
Der Gemeindetag ist in seiner Diversität einmalig. Alle möglichen Strömungen sind vertreten, orthodoxe, liberale, konservative. Es gibt spitzfindige, intellektuelle Veranstaltungen, religiöse Panels, heitere Lesungen und herrliche Musik.
Es gibt alles. Was es nicht gibt, ist: allein sein. Das muss und sollte es jetzt auch nicht geben. Jetzt ist die Zeit, sich innerlich aufzurichten. Jeder für sich. Und wir alle zusammen. Um stärker, klarer und selbstbewusster nach außen treten zu können.
Es bleibt eine harte Zeit. Und es gibt keine Entwarnung. Mein Gott, ich rede schon wie eine Rabbinerin. Dabei freue ich mich einfach nur, so viele wie möglich wiederzusehen. Yael sprechen zu hören, und Doron und Elisa und und und … Und mit Blick auf das Ende bin ich auch froh, denn – so viele Tage nur mit Jüdinnen und Juden, das ist eine Herausforderung. Für die Stimmbänder, die Lachmuskeln, für das Herz generell. Und ich liebe Herausforderungen!