Der 7. Oktober 2023 war nicht nur für Israel und jeden Israeli, sondern auch für alle Juden weltweit ein brutaler Einschnitt, eine Zäsur. Seitdem ist nichts mehr wie zuvor. Das, was vorher war, hat einer neuen Realität Platz gemacht.
Es wird vom nichtjüdischen Teil unserer Gesellschaft gern ausgeblendet, es wird zumindest nicht richtig wahrgenommen, aber es ist ein Fakt: Viele jüdische Journalisten, Intellektuelle oder Künstler positionieren sich heute ganz anders zu bestimmten Themen als noch vor dem 7. Oktober. Wenn Sie mit Juden reden, wird Ihnen das auch sehr eindrücklich klar werden.
Folgendes ist mir sehr wichtig zu betonen. Denn noch immer scheint es so zu sein, dass dieser Punkt in der Diskussion oft nicht wahrgenommen wird: Das jüdische Volk ist seit dem 7. Oktober im Ausnahmezustand. Die Emotionen, die der Hamas-Terror ausgelöst hat – Zorn, Schock, Fassungslosigkeit, Trauer –, sind nicht weg. Sie sind weiterhin präsent. Sie schmerzen. Es ist eine offene Wunde.
Israel tut alles dafür, um Zivilisten zu schützen. Die Hamas tut alles dafür, die Anzahl der zivilen Opfer in die Höhe zu treiben.
Nun sagt man gern: Die Zeit heilt alle Wunden. Das Problem ist aber – und ich weiß, wovon ich rede, meine Frau ist Ärztin – , eine Wunde kann nur dann zumindest beginnen zu verheilen, wenn sie gut versorgt wird und sie nicht tagein, tagaus wieder aufgerissen wird. Was den 7. Oktober anbelangt, ist aber genau dies der Fall. In meinem Berufsfeld, dem Journalismus, ist es offensichtlich.
Ja, fast die ganze Welt reagierte damals nach dem 7. Oktober geschockt. Doch anders als bei anderen Terroranschlägen wie dem 11. September hielt das Entsetzen über das schlimmste Massaker an Juden seit der Schoa bei den meisten nicht lange an. Zwar gab es zunächst Solidarität mit Israel, auch in Deutschland. Aber die Gegenbewegung war schon am 7. Oktober in vollem Gange und nahm schnell Fahrt auf, und damit meine ich nicht nur das spontane Verteilen von Baklava und Hupkonzerte in Neukölln, mit denen arabischstämmige Berliner ihrer Freude über die Massaker Ausdruck verliehen.
Der Leitspruch vieler deutscher Journalisten nach dem 7. Oktober: »Ja, aber … Kontext!«
Es geschah, was immer wieder geschieht: Die Taten der Hamas wurden »eingeordnet«, in »Kontext gestellt«. Mit anderen Worten: Sie wurden heruntergespielt. An vorderster Front der Verharmlosung standen auch hochrangige politische Entscheidungsträger wie die UN-Sonderbeauftragte Francesca Albanese.
UN-Generalsekretär António Guterres verurteilte die Taten der Hamas zwar gelegentlich, verwies aber darauf, dass das alles ja nicht im luftleeren Raum passiert sei – und sprach explizit von der Besetzung palästinensischer Gebiete durch Israel 1967.
Was Herr Guterres nicht erwähnte: Israel zog sich bereits 2005 vollständig aus dem Gazastreifen zurück. Gaza hätte ein zweites Singapur werden können. Frieden, Freiheit und nach und nach Wohlstand hätte in Gaza Einzug halten können.
Stattdessen schmissen die Hamas-Milizen politische Gegner von der Fatah von Hochhäusern und investierten fortan fast jeden Dollar der jährlich von der internationalen Gemeinschaft bereitgestellten Milliarden nicht in das Wohl der eigenen Bevölkerung, sondern in gigantische Terrortunnel und Raketen, die fortan zu Zehntausenden auf Israel abgefeuert wurden. Das vorderste und einzige Ziel der Hamas: die Auslöschung des jüdischen Staates und jedes einzelnen Juden im jüdischen Staat. So viel zum »Kontext«.
Zwischen dem demokratischen Staat Israel und der Terrororganisation Hamas darf es keine Äquidistanz geben.
Ich fragte mich schon damals: Wie kann man auch nur ein Quäntchen Verständnis für diese Mörderbanden haben? António Guterres war ja bei Weitem nicht der einzige, der so daherredete. Publizisten, Künstler, Intellektuelle und andere ergingen sich ebenfalls in akrobatischen geistigen Verrenkungen.
Judith Butler, die Starphilosophin, die ganze Generationen von jungen Studenten prägt, zum Beispiel: die Hamas als Befreiungsorganisation? Die Gräuel des 7. Oktober, eines der am meisten dokumentierten Massaker der Gegenwart, haben möglicherweise nicht stattgefunden? Der 7. Oktober geht in Wahrheit auf das Konto der Israelis? Der Hass auf Israel, der Hass auf den Westen setzt zuweilen selbst bei den intelligentesten Menschen Verstand und Mitgefühl aus.
Ich frage mich: Warum muss bei allem, was an Schrecklichem in Nahost passiert, immer Israel schuld sein? Warum wird Israel für alles, was in Gaza passiert, verantwortlich gemacht? Warum kommen die Hamas und die von Grund auf korrupte, judenhassende, Terror fördernde Fatah als handelndes Subjekt so gar nicht im Diskurs vor?
Nach dem 7. Oktober hat Israel sich massiver als zuvor gewehrt. Es musste und muss sich wehren.
Regiert nicht die Hamas seit 2007 die Küstenenklave? Wurde sie nicht 2006 schon in freien Parlamentswahlen in den Palästinensischen Autonomiegebieten mit Mehrheit gewählt? Und ist Israel verantwortlich, dass dort seitdem nicht mehr gewählt wurde?
Fakt ist: Die Hamas feuert aus Gaza seit Jahren mit großer Regelmäßigkeit Raketen auf Israel ab. Israel muss sich gegen die Terrorangriffe wehren, um seine Bürger zu schützen und weitere Attacken zu unterbinden. Und Fakt ist auch: Israel tut alles dafür, um zivile Opfer zu vermeiden. Die Hamas indes tut alles dafür, die Zahl der zivilen palästinensischen Opfer zu erhöhen, um den Krieg der Bilder gegen Israel zu gewinnen.
Terroristen machen oft kein Hehl aus ihren Zielen. Die Hamas fordert die eigene Bevölkerung ganz offen dazu auf: Werdet Märtyrer! Es braucht mehr palästinensische Opfer, um den »zionistischen Feind« auf lange Sicht zu besiegen.
Nach dem 7. Oktober hat Israel sich massiver als zuvor gewehrt. Es musste sich wehren, darüber besteht in Israel übrigens von rechts bis links breiter Konsens. Und es muss sich nach wie vor wehren, denn nach wie vor feuert die Hamas Raketen ab, die sie in ihrem riesigen unterirdischen System selbst herstellt. Ja, in Gaza gibt es unterirdische Raketenfabriken. Auch darüber liest man wenig bis nichts bei meinen Kollegen in anderen Zeitungen.
Haben Juden nicht das Recht, sich gegen Pogrome zu wehren? Sollen sie sich einfach abschlachten lassen?
Stattdessen wird die Hamas oft unterschwellig als hinterwäldlerische, militärtechnisch hoffnungslos unterlegene Truppe hingestellt, die sie definitiv nicht ist. Von den fortwährenden Angriffen aus dem Libanon, mit freundlicher Unterstützung des Iran, ganz zu schweigen. Wussten Sie, dass es wegen dieser unablässigen Angriffe der Hisbollah nach wie vor rund 100.000 israelische Binnenflüchtlinge gibt? Heruntergerechnet auf die Gesamtbevölkerung der Bundesrepublik wären das 800.000 deutsche Binnenflüchtlinge, also rund fünf ganze Städte mit einer Einwohnerzahl wie Heidelberg. (…)
Israel hat sich die Zerschlagung der Hamas zum Ziel gesetzt. Israel will die Terrororganisation militärisch ausschalten. Das ist ein legitimes und ja auch existenziell notwendiges Anliegen. Jedes andere Land, das über Jahrzehnte von einer solchen Terrororganisation angegriffen wird, würde sich dieses Recht herausnehmen. Jedes andere Land. Auch Deutschland.
Als Jude fühle ich mich bezüglich der Debatten nach dem 7. Oktober oft im falschen Film. Haben Juden nicht das Recht, sich gegen Pogrome zu wehren? Sollen sie sich einfach abschlachten lassen?
Wussten Sie, dass es wegen dieser unablässigen Angriffe der Hisbollah nach wie vor rund 100.000 israelische Binnenflüchtlinge gibt?
So explizit sagt das natürlich niemand, aber genau darauf läuft es hinaus. Die Konsequenz aus der NS-Zeit nicht weniger Deutscher ist: »Nie wieder Krieg!« Die Konsequenz der Juden in Israel lautet auch: »Nie wieder Auschwitz!« Wer angegriffen wird, muss sich wehren. Die Israelis können sich nicht den Luxus erlauben, diese Wahrheit zu ignorieren.
Dass am 7. Oktober ein Redakteur und ehemaliger Israel-Korrespondent in einem Kommentar in der Süddeutschen Zeitung darüber schwadronieren durfte, wie das Massaker dem israelischen Ministerpräsidenten politisch in den Kram passe, hat mich schockiert. Dass viele Journalisten auch in Deutschland glauben, Israel führe gezielt einen Krieg gegen die Palästinenser, nur damit Premier Benjamin Netanjahu an der Macht bleibe, auch.
Nein, man mag vom israelischen Ministerpräsidenten halten, was man will – und ich halte nicht sehr viel von ihm –, aber Israels Armee zu unterstellen, sie agiere als Handlangerin der persönlichen Interessen eines Politikers, das ist, ja genau: infam. Israels Soldaten kämpfen nicht für Premier Netanjahu, sie kämpfen für das Überleben ihres Staates und seiner Bürger. Ein ehrenwertes Motiv, wenn Sie mich fragen.
Wo genau soll Platz sein für den Staat Israel, wenn zwischen Jordan und Mittelmeer ein Staat namens Palästina existieren sollte?
Leider liegt im deutschen Journalismus einiges im Argen. Es verrutschen ethische Maßstäbe, es werden doppelte Standards angelegt. Es wird allzu häufig auch dämonisiert und diffamiert. Das war übrigens beim russischen Angriffskrieg gegen die Ukraine anders. Da wurde klar benannt, wer Opfer und wer Täter ist. Von den allermeisten zumindest. (…)
Was, wie schon erwähnt, wenig bekannt ist: Im Norden Israels sind durch die Angriffe der Hisbollah seit geraumer Zeit ganze Landstriche unbewohnbar. Auch hier lohnt der Blick in die Geschichtsbücher: Es war Israel, das im Jahr 2000 aus dem Südlibanon abgezogen ist. Die Hisbollah ist damals flugs nachgerückt. Heute ist sie eine noch größere Bedrohung, als sie es damals schon war.
Eine Frage an Sie alle: Lesen Sie darüber in Ihrer Tageszeitung oder in den Tagesthemen, Tagesschau oder den ZDF-Hauptnachrichten? Erfahren Sie davon in den Radionachrichten? Ich nicht, außer in der »Welt«, »Bild«, »NZZ« oder der »FAZ«. Das klingt womöglich viel, angesichts der immer noch sehr pluralen deutschen Medienlandschaft ist es das leider aber ganz und gar nicht.
Es gibt hierzulande einen Hang zur Pseudo-Ausgewogenheit.
Wenn Israel indes auf den Dauerbeschuss aus dem Libanon reagiert, wenn Israel sich wehrt, wenn Israel scheinbar etwas falsch macht: Dann berichten alle, allen voran die dpa, die Deutsche Presse-Agentur, die so ziemlich jedes Medium in Deutschland mit News beliefert. Der Tenor der Berichterstattung, bestenfalls: »Eskalation in Nahost«. Dass die Hisbollah angreift und Israel sich bloß zur Wehr setzt, wird nicht erwähnt.
Eine solche einseitige Fokussierung ist vielleicht ungewollt. Manchmal steckt falsch verstandene Äquidistanz dahinter. Doch bei einer Terrororganisation auf der einen Seite und einem demokratischen Staat auf der anderen Seite darf es keine Äquidistanz und »False Balance« geben. Manchmal steckt Unwissenheit dahinter. Es ist mitnichten immer Antisemitismus. Aber, und glauben Sie mir, ich kenne den einen oder anderen Kollegen, manchmal eben schon.
Machen wir es doch mal konkret: Wer behauptet, dass Aufrufe wie »Free Palestine, from the River to the Sea« oder der Schlachtruf »Yalla Intifada« oder die Verleumdung »Zionisten sind Faschisten« einfach nur x-beliebige Meinungsäußerungen sind, die erlaubt sein müssen und nicht bestraft werden dürfen, weil die Leute angeblich ja nur für die gute Sache der Palästinenser protestieren, der spielt auch hier ein falsches Spiel. Wo genau soll Platz sein für den Staat Israel, wenn zwischen Jordan und Mittelmeer ein Staat namens Palästina existieren sollte?
Es ist mitnichten immer Antisemitismus. Aber, und glauben Sie mir, ich kenne den einen oder anderen Kollegen, manchmal eben schon.
Fast schon hilflos stehen Teile des deutschen Journalismus dem Hass aus einem bestimmten Milieu gegenüber. Es gibt hierzulande einen Hang zur Pseudo-Ausgewogenheit. Wenn die eine Seite etwas Schlechtes verbrochen hat, muss man der anderen Seite auch etwas Schlechtes nachsagen. Das »Ja, aber …«-Prinzip könnte man es nennen.
Dabei hätte ich zumindest von meinen Journalistenkollegen und der Zivilgesellschaft in Deutschland Mut zur Klarheit und Wahrheit erwartet. Es fängt damit an, dass man niemals zulässt, den demokratischen Rechtsstaat Israel auf eine Stufe mit einer Terrororganisation wie der Hamas zu stellen. Denn wer den jüdischen Staat, die einzige Demokratie in Nahost, mit Hamas, Hisbollah und den Mullahs im Iran vergleicht, wenn auch nur implizit und verquast formuliert, betreibt Propaganda.
Der Text ist ein Auszug aus der »Heidelberger Hochschulrede«, die der Autor am 11. Juli an der Hochschule für Jüdische Studien Heidelberg gehalten hat.