von Rabbiner Netanel Wurmser
Die Parascha Ki Tissa skizziert die wohl größten Spannungsfelder jüdischen Lebens. Paradox ist, wie Volkszählung und Sühne, Schekel-Spende und die Hebe fürs Heiligtum aufeinandertreffen. Oder, wie sich Mosches Lebenshöhepunkt und der tiefste Fall des Volkes beim Anbeten des Goldenen Kalbs diametral gegenüberstehen.
Statt dass Mosche seinen geistigen Zenit mit dem ganzen Volk gemeinsam feiert und dieser Tag für alle Zeiten als unvergesslicher Jubel- und Freudentag in die Geschichte eingeht, erleben wir ein Fiasko: den völligen Zusammenbruch aller mühsam erarbeiteten Moralvorstellungen.
Lassen wir uns in Erinnerung rufen, wie schwer das jüdische Volk unter dem Pharao in Ägypten zu leiden hatte. Ein egomanischer Tyrann, der sich selbst zu einer Gottheit hochstilisiert hatte, konnte sich nie damit abfinden, auch nur einen Hauch g’ttlicher Allmacht zu akzeptieren. Zehn Plagen brauchte es, bis er weichgeklopft war. Dabei hatte er sein ganzes Imperium dem Ruin entgegengehen sehen, und war dennoch stur und einsichtslos geblieben.
Bereits im ersten Vers des 2. Buches Moses findet der Baal Ha-Turim, Rabbi Jakov Ben Ascher (1270-1340) eine sichere Quelle dafür, dass etliche Israeliten in Ägypten geblieben sind. Demzufolge gaben nicht großartige kulturhistorische oder religionsphilosophische Leistungen den Ausschlag, aus Ägypten herauszukommen, sondern es waren das Bewahren des Bundeszeichens der Brit Mila, der Beschneidung, und das Halten des Schabbats, die die Grundlage bildeten und den Weg dafür ebneten.
Selbst ein Mann wie Mosche hatte nicht die Möglichkeit, das ganze Volk zu retten, gar viele gingen in den Wirren der Zeit unter und versanken in den Fluten der Assimilation. Zum Vers »… Wachamuschim« – »und gerüstet, bewaffnet zogen die Kinder Israel aus Ägypten« (2. Buch Moses 13,18; wobei das hebräische Wort »chamesch« ein Fünftel andeutet) bestätigt uns der Midrasch, dass lediglich ein Fünftel der in Ägypten versklavten Juden ausziehen konnten, während es vier Fünftel gar nicht geschafft hatten.
Mosche hatte G’tt gehorcht und alles richtig gemacht. Er zeigte wahre Größe, als er in der Hitze des Gefechts der letzten Vorbereitungen noch Josephs Gebeine aus dem Nil herbeischaffte. Er führte das Volk durch das Schilfmeer bis zum Berg Sinai, bereitete es drei Tage auf Kabbalat Torah vor und erklomm dann höchste geistige Höhen. Er selbst erlebte die größtmögliche G’ttesnähe, die wir aus der Tora kennen, war also der g’ttlichen Realität näher als sonst je ein Mensch gewesen war.
Zentral stellt sich da unmittelbar die Frage, wie es unter den beschriebenen Umständen Mosche überhaupt in den Sinn kommen konnte, die mit dem Finger G’ttes beschriebenen Gesetzestafeln zu zerbrechen. Wie konnte es ihm nur einfallen, dieses einmalige himmlische Geschenk zu zerstören, sich sozusagen gegen den Himmel zu wenden?
Eine der Antworten darauf ist, dass himmlische Gesetzestafeln absolute g’ttliche Gerechtigkeit (Middat Hadin) auf Erden einfordern und daher in einer menschlichen Gesellschaft in die Brüche gehen müssen, was auch einer Absage der Tora an jegliche fundamentalistische Ideologien gleichkommt.
Eine andere Antwort folgt den Erklärungen des Tora Temima, Rabbi Baruch Epstein aus Pinsk (1860-1941), und dem Talmud Jeruschalmi. Das Volk hat Mosche durch das Anbeten des Goldenen Kalbs den schönsten Tag seines Lebens vermasselt. Aber obwohl ihn der Ewige über diesen Sündenfall schon ins Bild gesetzt hatte, näherte sich Mosche den Kindern Israels und machte sich ein Bild von den Vorgängen. Nach sorgfältiger Beurteilung der Lage zerbrach er die Gesetzestafeln. Durch seinen Entschluss, die Tafeln nicht zu übergeben, sondern sie eigenhändig zu zerbrechen, wollte Mosche das Volk vor einem unlösbaren inneren Konflikt bewahren: Denn hätte er die Tafeln übergeben, wären die Kinder Israels der Häresie schuldig gewesen.
Mosche geht bis an die Grenzen seiner körperlichen und spirituellen Möglichkeiten, um Israel beizustehen, es erneut aufzurichten und auf den rechten Weg zurückzubringen: Er bemüht sich um Ersatz für die ersten, zerbrochenen Tafeln und verhilft dem Volk mit einer zweiten Chance zur Umkehr.
Der Autor ist Landesrabbiner der Israelitischen Religionsgemeinschaft Württembergs.