von Rabbiner Baruch Rabinowitz
Das Gefühl, »zu spät« zu sein, kennt wohl jeder. Wir rennen durch die Stadt, um unseren Zug nicht zu verpassen, und wenn wir endlich an den Gleisen stehen, ist er gerade weggefahren, oder eine Tür schließt sich direkt vor unserer Nase. Manchmal bietet uns das Leben einzigartige Chancen und Möglichkeiten, die wir nie umsetzen – wir kommen zu spät. Aber was ist mit der zweiten Chance?
Die Tora beschäftigt sich in unserem Wochenabschnitt mit diesem Thema. Am Anfang der Sidra im Kapitel 9 werden die Gesetze des »Pessach scheni«, des »Zweiten Pessach«, gegeben. »So jemand unrein in seiner Seele sein wird, oder auf weiter Reise ist, ... so opfere er doch das Pessach dem Ewigen. Im zweiten Monat am vierzehnten Tage gegen Abend sollen sie es opfern, mit ungesäuertem Brote und bitteren Kräutern sollen sie es essen ... Nach der ganzen Satzung des Pessach sollen sie es essen« (11-12).
Menschen, die am 14. Nissan ihr Pessachopfer nicht bringen konnten, hatten eine Möglichkeit, das Fest der Befreiung genau einen Monat später nach allen Gesetzen und Gebräuchen nachzufeiern. Pessach ist der einzige Feiertag, der nachgefeiert werden darf. Denn es handelt sich ja schließlich um die Befreiung aus der persönlichen Sklaverei.
Die Tora nennt zwei Gründe, die das Versäumen des Wiedererlebens des Exodus entschuldigen und eine zweite Chance bieten. Der erste wird als »Tame lanefesch«, »unrein in seiner Seele«, beschrieben, eine Seele, die verwirrt und kraftlos ist. So ein Mensch hat seinen Blick zwar schon auf das Gelobte Land gerichtet, er hatte aber noch nicht genug Mut, das Rote Meer zu spalten und sich durch die leblose Wüste auf den Weg zu seinen Träumen zu machen.
Der Gott der Heilung fordert jedoch eine solche Seele noch einmal auf. Die wichtigste Lehre von Pessach ist, dass eine getroffene Entscheidung sofort praktisch umgesetzt werden sollte. Die Rabbiner erklären, dass wenn die Israeliten auf das gebackene Brot gewartet hätten, sie Ägypten nie verlassen hätten. Die zweite Möglichkeit ist da, muss aber genutzt werden.
Als zweiten Grund nennt die Tora jemanden, der auf dem weiten Weg ist. Der Weg zum Judentum ist nicht immer leicht und gerade. Menschen kommen aus verschiedenen Hintergründen und Lebensumständen. Viele von uns haben das Judentum und den Weg zu Gott erst später im Leben gefunden. Die Botschaft der Tora ist eindeutig: Auch die Menschen, die auf dem vom Judentum weit entferten Lebensweg wandern, sind eingeladen, das Schicksal des Volkes Israel zu teilen und an dem persönlichen Exodus teilzunehmen. Auch wenn eine Chance schon verpasst wurde, macht uns die Tora Hoffnung, dass es eine zweite. gibt. Mach jetzt, und mach es richtig!
Die Gesetze des Pessach Scheni gelten jedoch nicht für diejenigen, die das Fest bewusst versäumt haben: »Aber der Mann, der rein ist und nicht auf der Reise ist und es unterlässt, das Pessach zu opfern, diese Person wird ausgerottet aus ihren Stämmen. Denn das Opfer des Ewigen hat er nicht dargebracht zu seiner Zeit, seine Sünde trage er selbst« (4. Buch Moses 9,13). Die Tora droht in diesem Fall mit der höchsten Strafe Gottes, der Karet.
Karet bedeutet, dass die menschliche Seele von Gott getrennt wird und an die Quelle des Leben nicht mehr gebunden ist. Für diesen Fall sind auch keine Versöhnungsopfer vorgesehen. Es bleibt eine Angelegenheit zwischen Mensch und Gott allein. Nur sie können es untereinander regeln und die Beziehung zueinander wiederherstellen.
Das Opfer auf Hebräisch ist »Korban« und stammt vom Wort »karow« – »näher kommen«. Der Sinn von Opferdienst im Judentum war nie ein Versuch, eine wütende Gottheit zu besänftigen, sondern es ging darum, der Quelle der Liebe und des Lebens näher zu kommen. Das höchste Ziel, so Rabbiner Jakob Emden, ist es, mit Gott und unseren Geliebten absolute und grenzenlose Nähe zu erreichen. Jede ungenutzte Möglichkeit, etwas von sich zu geben, ist gleichzeitig eine verpasste Chance, noch näher zueinander zu kommen, eine noch engere Verbindung zu schaffen, die Beziehung noch liebevoller und stärker zu machen, egal ob zwischen Mensch und Gott oder zwischen Mensch und Mensch. Jeder Moment des Lebens ist kostbar, jede uns geschenkte Möglichkeit ist einmalig.
Die Gesetze von Pessach Scheni lehren uns, mit unserem Leben, mit der uns gegebenen Zeit und den Möglichkeiten, die uns geboten werden, sorgfältig umzugehen. Eine bewusst ungenutzte Chance wird uns nie wieder gegeben. Solange wir aber entschlossen auf dem Weg sind – auch wenn unser gewünschtes Ziel uns noch weit entfernt scheint –, versichert uns die Tora, dass Gott auf uns wartet, bis wir ihm zu seiner vorgeschriebenen Zeit das Opfer unserer Liebe bringen. Aber Gott wartet nicht ewig.
Beha’alotcha, 4. Buch Moses 8,1 – 12,16