von Rabbiner Berel Wein
Tu Bischwat – dem Neujahrstag der Bäume und Früchte – ist eine halachische Bedeutung eigen, die sich auf eine Reihe von landwirtschaftlichen Mizwot in der Tora bezieht. Aber wie bei allen Fragen von Halacha und Mizwot kann aus diesem Tag auch eine große moralische Lehre gezogen werden. Tu Bischwat markiert den Wendepunkt des Winters. Auch wenn noch viele Winterwochen vor uns liegen, besteht kein Zweifel daran, dass sich die Jahreszeit wendet. Die Tage werden länger, die Sonne steht höher und heller am Himmel, und die Anzeigen für Pessachquartiere werden immer dringlicher und fieberhafter im Ton. Tu Bischwat ist nicht nur ein Neubeginn für die Früchte und Bäume im Land Israel. Es signalisiert einen Neubeginn für uns als Individuen und als Volk und jüdische Gesellschaft.
Eines der vielen erstaunlichen Muster in der jüdischen Geschichte ist die Fähigkeit der jüdischen Gesellschaft, sich zu erneuern, wenn die Zeitumstände es verlangen. Jede Generation, jedes Jahrhundert der Geschichte wirft uralte Probleme auf – mit immer neuen Wendungen und verän-
derten Details. Sich diesen Herausforderungen zu stellen ist die Verantwortung der jüdischen Führerschaft einer jeden Generation, einer jeden Epoche. Tu Bischwat kommt und erinnert uns an diese allgegenwärtige Verantwortung, Gegenwart und Zukunft mit realistischen und dennoch kreativen Taktiken und Lösungen zu gestalten, um unsere Ängste und Probleme zu überwinden.
Die vergangenen drei Jahrhunderte ha-
ben, insbesondere in der Welt des aschkenasischen Judentums, ein schillerndes Spektrum an Bewegungen, Idealen und Lösungen für das uralte jüdische Problem hervorgebracht. Die Haskala (Aufklärung) kam, um uns zu »zivilisieren«. Die Marxis-ten traten an, uns ein Utopia zu errichten. Die Zionisten kamen, um uns Sicherheit zu geben und den Antisemitismus ein für alle Mal aus der Welt zu schaffen. Das Reformjudentum wollte uns für die nichtjüdische Gesellschaft akzeptabel machen und uns mit humanistischen Zielen aussöhnen. Die säkulare Bewegung kam, uns von der Last der Tradition und Mizwoth zu befreien. Keine dieser Bewegungen hat ihre hochgesteckten Ziele erreicht.
Der Holocaust hat aus der Integration in die allgemeine humanistische Welt eine Farce gemacht und den Staat Israel hervorgebracht, doch Sicherheit gibt es auch jetzt nicht, und das Problem des Antisemitismus wurde nur noch verschärft. Stalin hat uns vom Marxismus geheilt. Die Haskala hat uns offensichtlich nicht ausreichend zivilisiert. Und die säkulare Be-
wegung muss sich permanent anstrengen, zu beweisen, dass sie kein hohles Gefäß ist. So herrscht heute ein Gefühl von Apathie und Leere in der jüdischen Welt.
Deshalb sind wir Zeugen des Endes ei-
ner Epoche. Das Alte geht, und das Neue ist noch nicht da. Daher die Apathie und der scheinbare Mangel an Führerschaft, der die jüdische Welt heute im Würgegriff hat. Doch aus solchen Momenten in der jüdischen Geschichte ist stets eine Erneuerung des Glaubens und des Idealismus erstanden.
Tu Bischwat soll unser Bewusstsein für die Notwendigkeit einer Erneuerung schärfen. Der Wechsel der Jahreszeit bezieht sich nicht nur auf das Wetter, sondern auch auf unsere Geschichte und unsere Gesellschaft. Die alten Strategien taugen nicht mehr für die Lösung heutiger Probleme. Die Antworten sind in der Tradition und in der Halacha zu finden, genau wie sie es waren, als Chasidut im 18. Jahrhundert das aschkenasische Judentum revolutionierte oder als die Mussar-Bewegung die Jeschiwa-Welt des späten 19. Jahrhunderts schuf. Wir können nicht ewig auf der Grundlage von Holocaust-Gedenkstätten oder zionistischen Sprüchen leben, die unsere Wirklichkeit hier in Israel Lügen strafen. Das Land braucht eine neue Regierung, um unsere Politik zu reformieren und sie repräsentativer zu machen.
Die Tora muss von den Ketten der Parteipolitik befreit werden, die sie momentan zu erdrosseln drohen. Die Tora gehört allen Juden, und sie muss allen Juden zu-
gänglich sein. Die Tora zu reformieren, zu redigieren, zu ändern und verbessern ist ein narrensicheres Rezept für Unheil und Assimilation in der jüdischen Welt. Wir müssen unsere Schulen und unsere sozialen Normen einer genauen Prüfung unterziehen. Nur so sind wir in der Lage, unsere Ziele klar zu definieren. Vielleicht gibt es verschiedene Wege, sie zu erreichen. Aber erst einmal muss Einigkeit darüber herrschen, woraus unsere Ziele bestehen. Es ist eine Zeit der Erneuerung, die Zeit für ein neues und anderes Denken. Der Winter wendet sich bei uns. Wir wollen mit aller Macht darüber nachdenken, wie wir zur Wärme des Frühlings gelangen, die gewiss kommen wird.
Nachdruck mit freundlicher Genehmigung von www.rabbiwein.com