von Markus Bickel
Die Rufe nach nationaler Einheit hören nicht auf. Knapp zwei Wochen nach Beginn des neuen Libanon-Krieges hält die Solidarität der insgesamt 18 Konfessionen des Zedernstaates. Zwar gibt es immer wieder Kritik am Alleingang der schiitischen Hisbollah-Milizionäre, die mit ihrer Gefangennahme zweier israelischer Soldaten am 12. Juli den Konflikt auslösten. Doch angesichts der anhaltenden israelischen Luftangriffe und der bevorstehenden gewaltigen Wiederaufbau des Landes rückt die libanesische Gesellschaft zusammen.
»Unter diesen dramatischen Umständen müssen wir alles vergessen, was uns trennt«, erklärte der katholisch-maronitische Kardinal Nasrallah Boutros Sfeir am Wochenende. Die Libanesen müßten jetzt geschlossen hinter ihrer Regierung stehen, um der gegenwärtigen Krise die Stirn bieten zu können. Die Rom-treuen katholischen, zugleich aber Sfeir als Patriarchen unterstellten Maroniten sind die größte christliche Gemeinschaft im Libanon. Auch viele griechisch-orthodoxe, griechisch-katholische, armenisch-orthodoxe, armenisch-katholische, koptische und syriaktische Gläubige leben in dem etwa vier Millionen Einwohner zählenden Land.
Zur Überraschung vieler stellt sich nicht nur die größte, auf etwa vierzig Prozent geschätzte schiitische Bevölkerungsgruppe hinter die von Generalsekretär Scheich Hassan Nasrallah geführte »Partei Gottes«. Nabil Dajani, Soziologe an der American University Beirut (AUB), konstatiert: »Je länger der Konflikt dauert, umso stärker wird der Rückhalt für die Hisbollah.« Das sei zu Beginn des Krieges noch nicht der Fall gewesen. Selbst im sunnitisch dominierten Stadtteil Hamra hört man dieser Tage Lobreden auf Nasrallah. Die israelischen Angriffe verdecken bis auf weiteres politische und konfessionelle Differenzen. Saad Hariri, der sunnitische Führer der anti-syrischen Parlamentsmehrheit und Sohn des im Februar 2005 ermordeten früheren Premierministers Rafik Hariri erklärte: »Ich rufe das libanesische Volk auf, vereint zu bleiben und die nationale Einheit zu wahren.«
Vor allem unter europäischen Diplomaten aber hört man skeptische Stimmen, ob die Welle der Solidarität mit den überwiegend schiitischen Flüchtlingen den Konflikt überdauern wird. Schon bald dürften sich vor allem auf christlicher, aber auch auf sunnitischer Seite Absetzbewegungen bemerkbar machen. Mit fatalen Folgen: Viele fürchten, die in Resolution 1559 des UN-Sicherheitsrats im September 2004 international erstmals geforderte, inzwischen auch von Israel als Bedingung für einen Waffenstillstand genannte Entwaffnung der Hisbollah werde unweigerlich zu internen bewaffneten Kämpfen führen.
Zumindest auf politischer Ebene stehen wahrscheinlich entscheidende Umwälzungen an. Zwei Minister stellt die prosyrische und proiranische Hisbollah im mehrheitlich antisyrischen Kabinett des sunni- tischen Premiers Fuad Siniora, im Parlament ist die mit dem Iran und Syrien verbündete Organisation mit 14 Abgeordneten vertreten.
Amal Saad-Ghorayeb, Autorin des Buches Hisbollah – Politik – Religion, rechnet damit, daß schon bald nach Ende des Krieges Neuwahlen ausgerufen werden, die die Stellung der Hisbollah in den politischen Institutionen des Landes stärken werde. Eine Aufnahme des kurzzeitigen maronitischen Ministerpräsidenten und Oberbefehlshabers während des Bürgerkrieges (1975-1990), Michel Aoun, in die Regierung hält die Politikwissenschaftlerin für unumgänglich. Aoun hatte Nasrallah im Februar in einem spektakulären Pakt zugesichert, am Recht der Hisbollah auf ihre Waffen nicht zu rütteln.
Ein knappes halbes Jahr später erweist sich das christlich-schiitische Bündnis als wichtiger Garant für die nationale Einheit. »Wenn die israelische Regierung glaubt, einen Keil zwischen die schiitische und die anderen libanesischen Bevölkerungsgruppen treiben zu können, irrt sie sich gewaltig«, sagt Saad-Ghorayeb.