von Gerhard Mumelter
Scharf heben sich die Konturen des geborstenen Turms der Maria-Assunta-Kirche von den Schneefeldern des Gran-Sasso-Massivs ab. Dachbalken ragen aus den Trümmerbergen in den engen Gassen des mittelalterlichen Ortes. Ein Schild am Ortseingang preist Fossa als »Dorf der Glückseligkeiten«. Das war einmal.
Seit dem 6. April ist in der 600-Seelen-Gemeinde im Apenninen-Vorland nichts mehr, wie es war. Der nächtliche Erdstoß bleibt die folgenschwerste Zäsur in der Geschichte des Ortes. Viel Bewohner verbringen die kalten Nächte in Zelten oder in ihren Autos.
Das Drama von Fossa hat in Rom eine Gruppe Menschen aufgeschreckt, die dem malerischen Bergdorf eng verbunden sind:
jüdische Familien, die in den letzten Jahren des Zweiten Weltkriegs in den abgelegenen Bergen der Abruzzen Zuflucht vor Verfolgung suchten.
Zu ihnen gehört Roberta di Consiglio, die vor 66 Jahren in einem Stall in Fossa geboren wurde. Dass die Römerin außerhalb des Ghettos der Hauptstadt zur Welt kam, verdankt sie dramatischen Umständen. Im Oktober 1943 flüchteten ihre Eltern aus Rom. Es mag Zufall gewesen sein, dass es das Paar nach Fossa verschlug, rund 130 Kilometer nordöstlich von Rom. Die Familie kannte niemanden in der Gegend, und die ersten Menschen, denen sie dort begegneten, war die Bauernfamilie De Bernardinis. »Ich war acht Jahre alt, als sie aus dem Nichts auftauchten«, schildert Nello De Bernardinis die Begegnung mit den di Consiglios. »Wir waren arm, aber eine Familie mit Herz. Meinem Vater war bewusst, dass seine Entscheidung uns alle in Gefahr brachte. Aber er beharrte darauf, es sei unsere Pflicht, diesen Menschen zu helfen. Wir haben eine Grube im Stall ausgehoben und sie dort versteckt. Als deutsche Soldaten unseren Ort durchkämmten, entdeckten sie einen von ihnen. Wir behaupteten, er sei unser Knecht.«
Einige der damals Geretteten haben sich, als sie von dem jüngsten Erdbeben in den Abruzzen hörten, ins Auto gesetzt und sind nach Fossa gefahren. Zu ihnen gehört Roberta di Consiglios Bruder Alberto. »Ich wäre nicht am Leben, hätten meine Eltern hier nicht Schutz gefunden«, sagt er. »Die Vorstellung, dass unsere Wohltäter von damals heute obdachlos sind, plagt uns.« Den 74-jährigen Nello De Bernardinis kann er trotz der Wirrnisse rasch aufspüren. Er schläft in der Nähe seines beschädigten Hauses im Auto. Das Angebot De Consiglios, ihn in Rom zu beherbergen, lehnt er freundlich ab: »Mein Haus ist beschädigt, aber ich lebe noch. Meinen Ort will ich nicht verlassen. Ich werde hier gebraucht.«
Die Bergbewohner der Abruzzen sind wortkarg, bescheiden und erdverbunden. Sie hängen an ihren Dörfern. Nur die bittere Armut zwang viele Bewohner in Fossa, nach Australien auszuwandern. Die Vorstellung, in der Großstadt zu wohnen und anderen zur Last zu fallen, behagt De Bernardinis nicht. Bald nach Kriegsende hatte sein Vater einen von der Familie di Consiglio angebotenen Geldbetrag dankend abgelehnt. Die Freundschaft jedoch überdauerte die Jahrzehnte.
Auch Emma di Segni hat sich auf den Weg nach Fossa gemacht. Sie ist zu Tränen gerührt. In einem der Zeltlager für die Bebenopfer umarmt sie Luigi und Giovanni Sarra, deren Eltern ihr damals Zuflucht gewährten: »Wir kamen im Winter hier an. Es lag viel Schnee, und wir suchten zunächst in einem verlassenen Gehöft Schutz, bis wir von einer Frau aufgenommen wurden.« Es waren insgesamt fünf jüdische Familien mit rund 30 Männern, Frauen und Kindern, die 1943 in Fossa und im Nachbarort Casentino Unterschlupf fanden – nur einige von 387 Fällen, die der Journalist Luigi Accattoli in seinem Buch I giusti d’Italia (Die Gerechten Italiens) schildert.
Die Dunkelziffer dürfte erheblich höher sein. Denn nach Berechnungen der italienischen Schoa-Historikerin Liliana Picciotto lebten in Italien zur Zeit der deutschen Besetzung 32.300 Juden, von denen rund 8.000 verhaftet wurden. Mindestens 24.000 überlebten. »Jeder gerettete Jude verdankt sein Leben einem italienischen Mitbürger«, sagt der Historiker Renzo De Felice.
Auch Leo Terracina ist dieser Tage nach Fossa gefahren, um nach seiner Gastfamilie zu sehen. »Mit Fossa verbindet uns eine tiefe Freundschaft. Die ganze jüdische Gemeinde Roms kennt diesen Ort. Jetzt können wir uns für die Gastfreundschaft erkenntlich zeigen, die uns damals rettete.« Terracina hat den Vorsitzenden der Jüdischen Gemeinde Roms, Riccardo Pacifici, mitgebracht. »Wir haben Hilfsgüter verteilt«, sagt Pacifici. »Der kanadische Geschäftsmann und Philanthrop Walter Arbib hat 400.000 Dollar gespendet, die wir den Opfern zugute kommen lassen. Wir planen auch Ferienaufenhalte für die Kinder des Dorfes und haben an die israelische Regierung appelliert, diese verdienten Menschen hier zu unterstützen«, so Pacifici. Diese Familien, die sich jetzt in akuter Notlage befinden, müssten von der Jerusalemer Holocaust-Gedenkstätte Jad Vashem zu »Gerech- ten unter den Völkern« erklärt werden, meint Pacifici.
Der für die Liste der Gerechten zuständigen Jad-Vashem-Historikerin Irena Steinfeldt war das Los der Flüchtlingsfamilien aus Fossa unbekannt. »Es sind Geschichten, die bisher nicht aktenkundig waren, und wir wären glücklich, wenn sich die Überlebenden bei uns melden würden, um über den Hergang der Dinge zu berichten.« So könnte die Liste der 391 gerechten Italiener schon bald um weitere Namen ergänzt werden.