PRO: »Ohne geht es nicht in diesen Zeiten«, meint Rainer L. Hoffmann.
Spätestens seit dem 24. Februar 2022, dem Tag des Überfalls Russlands auf die Ukraine, ist die Wehrpflicht wieder ein Thema in der politischen Diskussion. Dabei zeigen der Ukraine-Krieg, aber auch der Überfall der Hamas am 7. Oktober 2023, wie wichtig einsatzbereite Wehrpflichtige für die Verteidigung sind. Friedenstrunken nach der Auflösung des Ostblocks und »umzingelt« von Freunden, hatte in Deutschland und nicht nur dort eine signifikante Abrüstung eingesetzt. Dabei wurde oftmals auf die kostspielige Wehrpflicht verzichtet. Von den 28 Mitgliedsstaaten der NATO haben jetzt 24 eine Berufsarmee. Das war und ist nicht ungewöhnlich. Beispielsweise hatte Großbritannien nur zweimal in seiner Geschichte die Söhne des Landes zu den Fahnen gerufen, und zwar in den beiden Weltkriegen. Ansonsten verließ man sich stets auf Berufssoldaten.
In den Vereinigten Staaten ist der Berufssoldat ebenfalls der Normalfall. Ausnahmen waren auch hier Erster und Zweiter Weltkrieg. Allerdings blieb man nach 1945 zunächst bei dem Prinzip Wehrpflicht. Eine Wende brachte hier der Vietnamkrieg. Als die Verluste dramatisch anstiegen, protestierte die Bevölkerung, und zwar vor allem Mütter gegen den für ihre Söhne oft tödlichen Einsatz. Dies hatte zwei Folgen: Die USA stiegen aus dem Krieg aus, und die Wehrpflicht wurde abgeschafft. Seitdem ist es um die Einsätze der amerikanischen Streitkräfte ruhiger geworden.
Ähnliches ließ sich in Deutschland beobachten. Die Wehrpflicht war während des Kalten Krieges weitgehend akzeptiert. Doch in der Öffentlichkeit blieben Soldaten hierzulande zumeist unsichtbar. Nur die Einsätze bei Naturkatastrophen brachten kurzzeitig Aufmerksamkeit. Auch die ersten Auslandseinsätze interessierten kaum jemanden. Natürlich sah man das Risiko für die Soldaten, aber es war eben deren Risiko, sie hätten ja nicht Soldat werden müssen. Und die Tatsache, dass die Bundeswehr Anfang der 90er-Jahre ihre Personaldecke von über 600.000 auf heute 181.000 Soldaten reduziert hatte, sodass der Einsatz von bereits 10.000 von ihnen im Ausland bereits zum Problem wurde, war in der Öffentlichkeit kein Thema.
Was man daran erkennen kann: Wehrpflichtige schickt man nicht so schnell in den Krieg. Bei Berufssoldaten ist die Hürde niedriger. Problematisch dagegen sind die Auswirkungen auf das innere Gefüge der Bundeswehr. Ziemlich schnell zeigte sich ein Mangel an Nachwuchs, und zwar nicht nur bei den einfachen Soldaten, sondern ebenfalls in den Offiziersrängen.
»Es mangelt an allem, vor allem aber an Soldaten.«
Rainer L. Hoffmann
Theoretisch ist das Führungspersonal einer Wehrpflichtarmee das Spiegelbild der Bevölkerung. In der Praxis sah das immer ein wenig anders aus. Und wer nicht zum Bund wollte, fand oft auch einen Weg. Aber bis 1990 stimmte die personelle Zusammensetzung irgendwie. Das hat sich in den Jahren danach gewaltig geändert. Die Bundeswehr rückte deshalb intern manchmal weit nach rechts. Indiz dafür sind die angeklagten Stabsoffiziere im derzeitigen Prozess gegen den geplanten Umsturz durch die Reichsbürger rund um Prinz Reuß. Soldaten, die in den 70er-Jahren der »Roten Armee Fraktion« (RAF) nahestanden, sind dagegen eher unbekannt.
In der Bevölkerung selbst sank nicht nur das Interesse an der Bundeswehr, auch das Thema Landesverteidigung besaß einen geringeren Stellenwert. Als der damalige Inspekteur des Heeres, Hans-Otto Budde, vor rund 25 Jahren die Kampffähigkeit der Soldaten forderte, erntete er einen Shitstorm.
Das hat sich geändert. Die Einsicht, dass man zur Heimatverteidigung fähige Streitkräfte benötigt, hat sich mittlerweile herumgesprochen. Nur wie? Es mangelt an allem, vor allem aber an Soldaten. In der Juli-Ausgabe von »Loyal«, der Zeitschrift des Reservistenverbands, kann man die Zahlen nachlesen. Aktuell verfügt die Bundeswehr über 181.000 Soldaten, kurzfristig sollen es 201.000 werden, allein deshalb schon, um die geplante Brigade für Litauen aufzustellen. Perspektivisch sind 270.000 Soldaten angestrebt. Hinzu sollen 260.000 Reservisten kommen. Zurzeit beträgt die Zahl wehrübender Reservisten aber nur 43.000. Ob diese Ziele kurzfristig erreichbar sind, bleibt also fraglich. Eines aber ist sicher: Ohne Wehrpflicht wird es nicht gehen.
Von dem preußischen Militärreformer Gerhard von Scharnhorst stammt der Satz: »Alle Bürger eines Staates sind geborene Verteidiger desselben.« Das war Resultat der napoleonischen Kriege und der Preußischen Heeresreform. Dabei geht es heute nicht nur um die territoriale Integrität. Vor allem die Verteidigung der Idee der Demokratie und des dazugehörigen Gesellschaftssystems ist in den Vordergrund gerückt. Das können in der Tat nur die Bürger einer Demokratie leisten, und diese Verteidigung erfordert ihren Einsatz nicht nur in den Streitkräften, angesichts der Bedrohungslage aber dort zuerst.
Benjamin Franklin bemerkte hierzu: »Wer Freiheit aufgibt, um Sicherheit zu gewinnen, verdient weder Freiheit noch Sicherheit.« Folgen wir dieser Erkenntnis und schaffen uns ganz nebenbei Streitkräfte, die eine demokratische Gesellschaft in ihrer Gänze abbilden.
Rainer L. Hoffmann ist Oberstleutnant der Reserve und jüdischer Vorsitzender der Gesellschaft für Christlich-Jüdische Zusammenarbeit Duisburg-Mülheim-Oberhausen.
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CONTRA: »Die Rekrutierung ganzer Jahrgänge von jungen Menschen ist keine sinnvolle Lösung«, findet Boris Schulman.
Die Wiedereinführung der Wehrpflicht in Deutschland ist ein kontroverses Thema, das viele Bürger bewegt. Es gibt zahlreiche Argumente, die gegen eine allgemeine Dienstpflicht sprechen. Auch machen sich viele Menschen Sorgen über die möglichen Konsequenzen und fragen sich: Möchten wir wirklich Deutschland wieder »kriegstüchtig« machen, wie es unser Verteidigungsminister Boris Pistorius ankündigt? Sollen wir 79 Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs eine mindestens 200.000 Mann starke Armee mit modernsten Kriegswaffen ausstatten?
Angesichts der aktuellen politischen Situation sowohl in Deutschland als auch in Europa bereitet mir diese Vorstellung große Bauchschmerzen. Eine starke, konkurrenzfähige Bundeswehr könnte unter einer extremen, Kriege befürwortenden Regierung erheblichen Schaden anrichten – sowohl außen- als auch innenpolitisch.
Es gibt daher einige Argumente gegen die Wiedereinführung der allgemeinen Wehrpflicht. Vor allem eines scheint mir dabei relevant, und zwar die Frage nach der Effizienz und Professionalität. Eine moderne Bundeswehr basiert auf gut ausgebildeten und hoch motivierten Freiwilligen. Ein solches Berufsheer kann sich auf spezialisierte Fachkräfte konzentrieren, die im Laufe ihrer Dienstzeit ständig weitergebildet werden.
Wehrpflichtige, die nur für eine begrenzte Zeit dienen, erreichen einfach nicht das Ausbildungsniveau und die Einsatzbereitschaft von Berufssoldaten. Die Bundeswehr sollte deshalb wie jedes andere Unternehmen, das um Mitarbeiter wirbt, die Möglichkeiten einer Fortbildung sowie Aufstiegsmöglichkeiten hervorheben. So kann sie langfristig junge Menschen an sich binden, die sich mit ihrem Beruf identifizieren und diesen gern ausüben wollen. Das ist besser, als Menschen, die oft keine Motivation haben, durch eine Wehrpflicht dazu zu zwingen.
Es geht dabei auch um den Umgang mit Ressourcen. Die Ausbildung von Wehrpflichtigen verursacht hohe Kosten. Eine Infrastruktur, die für eine größere Anzahl von Wehrpflichtigen benötigt wird, bindet finanzielle Mittel, die vielleicht lieber in die professionelle und technologische Weiterentwicklung der Bundeswehr investiert werden sollten. Darüber hinaus entstehen durch die zwangsweise Unterbrechung beruflicher oder akademischer Lebensläufe volkswirtschaftliche Kosten. Auch müssen neue Kasernen errichtet, die Musterung Zehntausender junger Menschen sowie ihre Ausstattung mit Uniformen und Waffen bewerkstelligt werden. Angesichts der desolaten Haushaltslage und der Kürzungen im sozialen Bereich könnten diese Mittel besser für friedlichere und nachhaltigere Projekte oder in der Infrastruktur zum Einsatz kommen.
»Diese Vorstellung bereitet mir große Bauchschmerzen.«
Boris Schulman
Eine zahlenmäßig erstarkte und kriegstüchtige Armee bringt zudem das Risiko mit sich, eines Tages zweckentfremdet werden zu können. Sollte etwa eine undemokratische Regierung ans Ruder kommen, die womöglich »völkisch« eingestellt ist oder sogar Expansionspläne hegt, könnte die Bundeswehr für andere Ziele eingespannt werden als nur zur Landesverteidigung.
Auch die Option, dass Politiker außenpolitisch weniger zurückhaltend agieren und Deutschland schneller zur Kriegspartei machen könnten, steht dann im Raum. Eine solche Armee könnte diplomatische Lösungen unwahrscheinlicher machen, die Eskalation von Konflikten aber sehr wohl begünstigen.
Zudem hat sich die Art der Kriegsführung in den vergangenen Jahren grundlegend verändert. Heute sitzen Soldaten oft vor Monitoren und bedienen Waffen wie Drohnen aus großer Entfernung. Es ist durchaus fraglich, ob sechs Monate Ausbildung reichen, um junge Menschen auf die Bedienung einer hochkomplexen Technik und die damit verbundene Verantwortung vorzubereiten.
Deutschland ist durch die Einbindung in die NATO bereits gut aufgestellt und leistet innerhalb dieses Bündnisses wertvolle Beiträge. Doch mehr Aufrüstung und die Rekrutierung ganzer Jahrgänge von jungen Menschen sind keine sinnvolle Lösung. Stattdessen sollten bereits vorhandene Strukturen im Kontext der NATO effizienter und arbeitsteiliger genutzt werden.
Vor diesen Hintergründen kommt man schnell zu der Erkenntnis, dass die Wiedereinführung einer allgemeinen Wehrpflicht in Deutschland mehr Nachteile und Risiken mit sich bringt als konkreten Nutzen, von den Kosten ganz zu schweigen. Auch angesichts der historischen Erfahrungen, der veränderten Kriegsführung sowie der aktuellen sicherheitspolitischen Herausforderungen sollten wir besser auf eine starke, aber weiterhin freiwillige Bundeswehr setzen, die im Rahmen der NATO und internationaler Bündnisse agiert. Finanzielle Ressourcen sollten lieber in friedliche und nachhaltige Projekte wie Bildung, Infrastruktur und innere Sicherheit fließen, anstatt eine potenziell gefährliche personelle Aufrüstung zu forcieren.
Boris Schulman ist Mitglied des Gemeinderats der Jüdischen Gemeinde Frankfurt am Main.