von Rabbiner Berel Wein
Der Monat Tischri mit seinen dramatischen und frohen Festtagen liegt hinter uns. Mehr als ein Drittel von Tischri ist mit den Heiligen Tagen Rosch Haschana, Jom Kippur und Sukkot/Schemini Azeret/Simchat Tora ausgefüllt. Rechnet man die Tage der Vorbereitung und der An-
strengung hinzu, die dazugehören, wenn man diese Feiertage richtig begehen will, ist es keine Übertreibung zu sagen, der ganze Monat Tischri sei praktisch ein Feiertagsmonat.
Doch jetzt ist Tischri zu Ende. Der Winter starrt uns entgegen mit seinem un-
freundlichen Wetter, seinen Erkältungen, Triefnasen und der gefürchteten Grippewelle. Im Vergleich zu einem so frohen Monat wie Tischri ist der darauffolgende Monat Mar Cheschwan in der Tat düster und eintönig. Vielleicht liegt darin einer der Gründe, dass dem Monatsnamen Cheschwan das Präfix Mar voransteht. Eine der Bedeutungen des hebräischen Wortes mar ist »traurig, bitter, deprimierend«. Der Monat Mar Cheschwan ist der einzige Mo-
nat des jüdischen Kalenders ohne einen einzigen Feiertag, ohne einen speziellen Gedenktag. Wie die kahlen Bäume, die, wenn es Winter wird, ihr Laub abwerfen, steht er da ohne das aufheiternde Blattwerk besonderer Tage. Er ist einfach da. Und die jüdische Tradition hat ihm die Rolle zugeteilt, sich mit dem Banalen, dem Gewöhnlichen, dem Unspektakulären und den alltäglichen Grundlagen unseres Le-
bens zu begnügen.
Daher galten in der jüdischen Tradition die Feiertage von Tischri nie nur als Reihe von Festlichkeiten für diesen Monat allein. Einer der Gründe, warum Sukkot in der Tora »Chag Haasif«, Feiertag der Ernte und der Lese heißt, liegt darin, dass damit nicht allein die Erntezeit für das Getreide und überhaupt in der Landwirtschaft ge-
meint ist, sondern auch die psychologische und spirituelle Ernte des Segens der Feiertage von Tischri. Aus diesem Grunde auch heißt der Tag nach Simchat Tora »Issru Chag«, »bindet den Feiertag«. Der Tag nach dem Feiertag soll ein Tag des Bindens sein, ein Tag, der die Heiligkeit und Inspiration von Tischri mit den ansonsten scheinbar so gewöhnlichen Tagen von Mar Cheschwan verbindet. Die guten Vorsätze und das Bekenntnis zur Besserung der eigenen Person und zur nationalen Erneuerung, die unsere Feste Rosch Haschana und Jom Kippur charakterisieren, müssen jetzt, im Monat Mar Cheschwan und den nachfolgenden Monaten, einen echten und praktischen Ausdruck in unserem Leben, im alltäglichen Verhalten finden. In diesem Sinne kann man sagen, dass unsere Aufrichtigkeit und Hingabe im Monat Tischri erst im Mar Cheschwan wirklich auf die Probe gestellt werden. Das Paradox ist, dass die Heiligkeit im Monat Mar Cheschwan leichter zu messen, ja leichter erreichbar ist als im Monat Tischri. Erst in der Praxis zeigt sich, was sich bewährt. Die Heiligkeit eines Menschen, seine Hingabe an die Prinzipien der Tora, an das Gute, an Güte und Freundlichkeit und den Dienst an Gott und den Menschen sind nicht auf die Feiertage des Jahres begrenzt. All dies wird viel eher daran gemessen, wie man sich an einem ganz gewöhnlichen Tag in Mar Cheschwan verhält.
Mar Cheschwan lässt uns den bevorstehenden Winter mit Optimismus und Kraft erwarten. Den Regen, der auf unser Heiliges Land fällt, sollten wir als Segen, nicht als Belästigung betrachten. Die Kürze der Tage und die Überlast der Dunkelheit im Winter dient nur dazu, die Lichter von Chanukka, die ein späterer Monat uns bringt, heller erstrahlen zu lassen. Die Erinnerungen an Tischri werden uns helfen, uns in der Winterkälte warm zu halten. So war es die ganze jüdische Geschichte hindurch. Obgleich in der Tradition der Monat Nissan als Monat der Erlösung und der Hoffnung gilt, war es immer der Monat Tischri, der in dem langen Winter unseres Exils in uns die Hoffnung stärkte und unseren Geist beflügelte. Die Kraft unserer Gebete und die Tiefe unserer Freude darüber, das Volk der Tora zu sein, die der hinter uns liegende Monat Tischri so trefflich symbolisiert, dient dazu, uns zu wappnen gegen die Herausforderungen und das Grau des Winters. Statt deprimiert und traurig zu sein, weil die Feiertagssaison vorbei ist, sollten wir uns ermutigt fühlen und allem Kommendem gewachsen, da wir all das Gute des Tischri an uns binden und es in die kommenden Monate des Jahres mitnehmen können. Denn letzten Endes wird die Größe Israels und seiner Tora zu jeder Zeit und unter allen Umständen bei uns sein. Das Wissen darum und der Trost, den es bietet, sollten genügen, uns durch den Winter zu tragen.