Es ist, als wäre sie nie weg gewesen. Seit bald einem Jahr ist Katarzyna Weintraub in einer liebevoll eingerichteten Wohnung im Warschauer Stadtteil Mokotów zu Hause. Um wieder dort zu leben, wo sie einst aufwuchs, ist sie bereit, eine gesalzene Miete in Kauf zu nehmen. Mokotów ist einer der wenigen Stadtteile, der von deutschen Bomben verschont wurde, eine Oase inmitten der Boomstadt Warschau, deren Kriegswunden nie heilen werden.
Kasia, wie sie von ihren Freunden genannt wird, lebt nach der Trennung von ihrem Mann zum ersten Mal in ihrem Leben allein. Einsam ist sie nicht. Auch auf ihrer Wanderung durch Europa hat sie ihre polnischen Freunde nie aus den Augen verloren. Nun ist sie heimgekehrt in das Land, das sie 1971 verlassen und doch nie aus ihrem Herzen verstoßen hat. Vor zwei Jahren ist sie sechzig geworden: »Irgendwann ist es Zeit, nach Hause zu gehen.« Nach Hause? Nicht alle Menschen ihrer Generation würden das so sehen. Schließlich gab es 1968 in Polen eine üble antisemitische Hetze, die den 20.000 Menschen jüdischer Herkunft die Lust hierzubleiben vergällte, die meisten von ihnen jung und gebildet.
1968 war Kasia 21 Jahre alt und studierte im sechsten Semester Philosophie. Ihr Vater war pensioniert, die jüdische Mutter verlor ihren Posten als Staatsangestellte. Beide sind Holocaustüberlebende, der Vater war in Auschwitz und Sachsenhausen. Die Mutter wurde im KZ Ravensbrück medizinischen Versuchen unterzogen und litt lebenslang an den Folgen. Vater und Mutter lernten sich nach dem Krieg kennen und waren fest entschlossen, den Blick zurück zu meiden. Sie bekamen kurz hintereinander drei Kinder und beteiligten sich voller Zuversicht am Aufbau des Sozialismus. Über ihre Erfahrungen in den Konzentrationslagern schwiegen sie. Aus Angst, sie zu verletzen, stellten die Kinder keine Fragen. Heute ist es zu spät.
In Weintraubs Familie hielt man wenig von einer jüdischen Nationalität. Und von Religion noch weniger. Die Ereignisse vom März 1968 hat Kasia nicht primär als etwas Antijüdisches erlebt. Es herrschte Umbruchstimmung, Studenten und Intellektuelle drängten auf eine Demokratisierung des Systems. Als im Februar das Publikum bei antirussischen Passagen im Drama »Totenfeier« des polnischen Romantikers Adam Mickiewicz applaudierte, wurde das Stück abgesetzt. Nach der letzten Vorstellung kam es zu Protesten und Festnahmen. Ein Interview, das zwei Studenten der französischen Zeitung Le Monde gaben, kostete ihren Studienplatz. Gegen deren Verweis von der Universität gingen die Kommilitonen am 8. März auf die Straße.
Dass die beiden Studenten Juden waren, passte dem Regime ins Konzept. Schon im Vorjahr hatte man nach dem Sechstagekrieg unter dem Deckmantel des Antizionismus eine antisemitische Stimmung geschürt. Aber erst jetzt entpuppte sie sich als Kampagne. Alles, was schlecht war im Land, wurde auf die Zionisten geschoben. Spätestens jetzt erkannten die meisten, dass man aus dem System keine Demokratie machen konnte, Intellektuelle solidarisierten sich mit den Studenten.
»Wir waren geschockt und bedrückt«, erinnert sich Katarzyna Weintraub. Das Land verlassen wollte aber vor allem ihr Mann. Das junge Paar beantragte Reisedokumente, die ihnen aus »wichtigen nationalen Gründen« mehrmals verweigert wurden. Erst, als Parteichef Wladyslaw Gomul- ka gestürzt und durch Edward Gierek ersetzt wurde, durften auch die restlichen Auswanderungswilligen 1971 gehen.
Zehn Dollar Mit ihrer Ausreise verloren die Weintraubs die polnische Staatsbürgerschaft. »Wenn man mir erzählt, dass die deutschen Juden in der Nazizeit nur zehn Reichsmark in die Emigration mitnehmen durften, dann kenne ich diese Situation gut«, sagt Weintraub. In Polen waren es zehn Dollar pro Kopf. Um den Auswanderern den Neuanfang in der Fremde noch schwerer zu machen, mussten Wissenschaftler ihre Bücher und Schriftsteller oder Journalisten ihre Schreibmaschinen zurücklassen. »Wenn man alle Formalitäten erledigt hatte, war man froh, wegzukommen. Nichts wie weg aus diesem Lager!«
Dem jungen Paar blieb wenig Zeit, ein Aufnahmeland zu finden. Sie entschieden sich für Schweden. Mithilfe eines staatlichen Darlehens begannen beide dort eine zweite Ausbildung an der Uni. Kasia studierte Sozialanthropologie, schrieb ihre Diplomarbeit, wurde schwedische Staatsangehörige und bekam ihr erstes Kind. Nach sechs Jahren setzten die Weintraubs ihre Wanderschaft fort, denn Michal hatte in Köln einen Job gefunden. Wie sage ich es meiner Mutter?, war Kasias Hauptproblem. Und in der Tat drohte diese, niemals nach Deutschland zu kommen. Woran sie sich aber schon bald nicht mehr hielt, als Rentnerin war sie keinen Reisebeschränkungen unterworfen.
Umgekehrt sah es anders aus. Zwar wurde 1977 zwischen Polen und Schweden Visumfreiheit vereinbart, doch die Grenze erwies sich für die polnischen Juden mit schwedischem Pass als unüberwindbar. »Sie haben in Ihrem Leben eine Entscheidung getroffen und tragen jetzt die Konsequenzen.« Mit dieser Begründung wurde Kasia Weintraub die Einreise verweigert, als sie zur Hochzeit ihres Bruders nach Warschau kommen wollte.
reisefreiheit Mit der Wende war der Spuk vorbei. Die Weintraubs konnten nach Polen, so oft sie wollten, zumal sie sich nach mehreren Wohnorten in Deutschland, England und Belgien in Berlin niedergelassen hatten. Als Radio Multikulti und die polnische Redaktion der Deutschen Welle, für die Kasia gearbeitet hatte, dichtmachten, erkannte Weintraub, dass sie als Autorin und Übersetzerin deutschsprachiger Bücher in Polen bessere Berufschancen haben würde als in Deutschland. Auch was politisch hier passierte, ging ihr nicht wirklich unter die Haut.
Anders in Polen. Die Demokratisierungs- und Transformationsprozesse des Landes ziehen Kasia in ihren Bann. Alles ist in Veränderung begriffen. Weintraub ist überzeugt, dass das noch mehrere Generationen so weitergehen wird. »Die Menschen wollen Demokratie, aber sie tun sich noch schwer damit. Das ist faszinierend und manchmal auch ärgerlich.«
Ärgerliches fand Kasia aber auch in Deutschland. Als nach der Wende Ausländer und Flüchtlinge sich ihres Lebens nicht mehr sicher sein konnten, kam ihre jüngere Tochter eines Tages von der Schule und fragte: »Mama, müssen wir fliehen?« Obwohl hier geboren, identifizierte sie sich mit der Seite der Ausländer. Es wäre gar nicht anders möglich gewesen, denn »die deutschen Eliten sind ignorant. Sie haben sich von Polen ein Bild gemacht, das sie nicht korrigieren wollen.« Weintraub selbst hat als schwedische Staatsbürgerin keine Diskriminierung erfahren. Aber sie hat die Arroganz erlebt, mit der Freunde am Arbeitsamt behandelt wurden, wenn sie ihre polnischen Pässe zeigten.
keine heiligen Und dann das Vorurteil vom grassierenden Antisemitismus in Polen. »Ich lache nur, wenn die Leute mit solch simplen Wahrheiten daherkommen.« Weintraub gönnt den Deutschen die Entlastungsfunktion dieses Stereotyps nicht. »Jeder soll vor der eigenen Tür kehren. Die Polen waren keine Heiligen, aber die anderen auch nicht.«
Katarzyna Weintraub arbeitet daran, diesen negativen Bildern mit positiven Beispielen zu begegnen. Mithilfe eines einjährigen Stipendiums der Stiftung für deutsch-polnische Zusammenarbeit bereitet sie eine Publikation über ehemalige polnische Schtetl vor – Orte, aus denen während des Krieges mit einem Schlag mindestens die Hälfte der Bevölkerung verschwand. Weintraub geht der Frage nach, was diese Kleinstädte tun, um ihre Identität wiederzugewinnen. Warum bemühen sie sich darum, und wer steckt dahinter? Und wenn sie es nicht tun, warum nicht? Wie gehen sie damit um, dass die Geschichte der dortigen Juden ein unauflöslicher Teil der polnischen Geschichte ist? Und welche Rolle spielt dabei die katholische Kirche?
Während des Sozialismus waren solche Fragen tabu. Jetzt ist die Aufarbeitung der polnisch-jüdischen Geschichte in vollem Gange. Jährlich erscheinen zahlreiche Publikationen. »Wesentlich ist, dass es keine Fragen geben darf, die ausgelassen werden«, betont Weintraub, »und mit unbequemen Fragen tun sich die Polen schwer. Es gibt hier einen tief verwurzelten Glauben an die nationale Unschuld.« Bahnbrechend im Umgang mit unangenehmen Themen war die Debatte um die Kleinstadt Jedwabne im Nordosten Polens, wo am 10. Juli 1941 Hunderte von Juden von ihren polnischen Nachbarn ermordet wurden. Solche Diskussionen seien Schritte in die richtige Richtung, und Weintraub ist optimistisch: »In den letzten Jahren kann man von einer regelrechten Beschleunigung sprechen.«
befindlichkeiten Aber es sind nicht nur die Polen, die sich schwertun mit den Juden. Auch die Juden tun sich umgekehrt schwer mit den Polen. Jene seien geübt darin, Antisemitismus zu erkennen und zu bekämpfen, es fiele ihnen aber ungleich schwerer, Freunde und Verbündete aufzuspüren, merkte auf einer Konferenz in Jerusalem Polens Oberrabbiner Michael Schudrich an. »Und genau das sollte man in Bezug auf Polen tun«, betont Weintraub. »Anerkennen, dass sich die Polen bemühen, ihre Geschichte zu bearbeiten.«
Es gab zwar schon früher Bemühungen, sich an die Juden zu erinnern. Diese wurden jedoch von jüdischer Seite misstrauisch beäugt. Erst die schwierigen Debatten um polnische Mitschuld am Beispiel von Jedwabne und Kielce bewirken, dass sich die Juden ernst genommen fühlen. »Die Polen sind sehr empfindlich«, sagt Weintraub. »Sie müssen lernen zuzugeben, dass sie ganz normale Menschen sind, die Fehler wie alle anderen auch machen und um Entschuldigung bitten können.«
»Irgendwann ist es Zeit, nach Hause zu gehen«, sagt Weintraub und meint damit ihre Rückkehr nach Warschau. Vielleicht ist aber auch ihre Beschäftigung mit der jüdischen Geschichte so etwas wie eine Heimkehr. Wer weiß.