von Richard Herzinger
Von allen denkbaren politischen Systemen sei die Demokratie das am wenigsten schlechte, meinte sinngemäß Winston Churchill. Dasselbe gilt auf dem Gebiet der Wirtschaft für den Kapitalismus. Das sollte gerade heute betont werden. Denn angesichts der internationalen Finanzkrise (vgl. S. 11) wird der Kapitalismus von allen möglichen Seiten für gescheitert erklärt. Ihm werden gesellschaftliche Verantwortungslosigkeit und Unverträglichkeit, wenn nicht Gemeingefährlichkeit vorgeworfen. Schnell sind Kommentatoren bei der Hand, die nach Verstaatlichungen oder zumindest verschärfter staatlicher Kontrolle über das Finanzwesen rufen. Als hätten sich Staatsbanken wie die IKB in dieser Äffäre rationaler verhalten als private!
Dass maßlose Finanzjongleure, inkompetentes Management und fehlende oder versagende Kontrollmechanismen das internationale Finanzsystem an den Rand des Abgrunds gebracht haben, ist freilich unbestreitbar. Doch wer jetzt die bösen Finanzkapitalisten verdammt und dagegen etwa die Tugenden des ehrlichen, bodenständigen Familienunternehmers oder gleich die vermeintlich unendliche Weisheit von Vater Staat und seinen Vertretern preist, begibt sich in bedenkliche Nähe der unseligen Entgegensetzung von »raffendem« und »schaffendem« Kapital.
Es stimmt allerdings: Ohne Transparenz und verbindliche Regeln kann der freie Markt nicht funktionieren – und sich nicht selbst korrigieren. Das haben auch und gerade Vertreter der reinen kapitalistischen Lehre wie Friedrich Hayek und Milton Friedman stets gepredigt. Denn gerade wenn der Markt durch Regellosigkeit aus den Fugen gerät, öffnet er dem Durchgriff staatlicher Gängelung Tür und Tor. Mehr noch: Kapitalismus und Verantwortung sind untrennbar miteinander verbunden –auf andere Weise freilich, als es die Moralpredigten von Kapitalismuskritikern suggerieren. Seiner Verantwortung gegenüber dem Ganzen – der Gesellschaft, der Menschheit – kommt er nicht primär dadurch nach, dass sich individuelle Kapitalisten sozial engagieren und sich als besonders gutherzige, selbstlose Menschen erweisen.
Die Stärke des kapitalistischen Sytems liegt vielmehr gerade darin, dass es auf die guten Absichten und edlen Motive seiner Akteure nicht angewiesen ist, um Gutes zu bewirken. Adam Smith, der Urvater des Wirtschaftsliberalismus, sah gerade in möglichst ungehinderter Entfaltung der Einzelinteressen in einer freien Wirtschaft die beste Voraussetzung dafür, den Wohlstand aller zu heben und damit der Verantwortung der Ökonomie für das Gesamtwohl gerecht zu werden. Wie spätere enthusiastische Vordenker des Kapitalismus sah freilich schon Smith in dieser Sicherung der Wohlfahrt der Nationen die eigentliche ethische Legitimation einer freien Wirtschaft. Geistige, gesellschaftliche und wirtschaftliche Freiheit gehörten nicht nur für Smith, sondern für alle großen Aufklärer des 18. Jahrhunderts, von Voltaire bis Kant, untrennbar zusammen.
Das galt später auch für die sogenannten Manchester-Liberalen des frühen 19. Jahrhunderts, die heute zu Unrecht im Verdacht stehen, rücksichtslose Ausbeutung propagiert zu haben. Im Gegenteil: Manchester-Liberale wie Richard Cobden stritten für den freien Welthandel ausdrücklich deshalb, weil sie nur darin die Chance für die Verbesserung der sozialen und politischen Rechte der arbeitenden Klassen sahen.
Ungeachtet schwerer Krisen hat der Kapitalismus die Mission, die ihm seine enthusiastischsten Vordenker zugedacht hatten, historisch eindrucksvoll erfüllt – und erfüllt sie noch heute: durch die Entfaltung freien Handels immer größere Schichten der Bevölkerung und immer mehr Völker an den Reichtümern der Menschheit teilhaben zu lassen. Der Kapitalismus bietet damit ein weltliches System der Umsetzung jener ethischen Maxime, wie sie etwa in jüdischer Tradition als Zedaka oder »ausgleichende Gerechtigkeit« bekannt ist.
Durch die Globalisierung wachsen ehemalige Länder der »Dritten Welt« heute zu ökonomischen Großmächten heran, die weltweite Armut sinkt. Nicht zuletzt aber, weil sich immer mehr Menschen an den internationalen Finanzmärkten beteiligen können und von ihnen profitieren möchten, schwollen sie derart an, dass viele Finanzjongleure die Maßstäbe verloren.
Ohne Risiken wird dieser Globalkapitalismus auch in Zukunft nicht zu haben sein. Ebenfalls werden sich nicht alle Akteure auf den Finanzmärkten in gute Menschen mit vorbildlichem sozialen Verantwortungsbewusstsein verwandeln. So viel Eigenverantwortung kann aber von ihnen verlangt werden, dass sie nicht das System in die Luft sprengen, von dem sie selbst profitieren wollen. Ohne Rückbesinnung auf das ethische Gründerpathos des Kapitalismus wird das nicht gehen.
Der Autor ist Politik-Redakteur der »Welt am Sonntag«.