von Rabbiner Elias J. Dray
Erinnerung ist ein wichtiger Bestandteil des jüdischen Seins. Unsere Geschichte trägt uns auf zu erinnern. Erinnern, um zu lernen und um künftige Generationen zu mahnen. Auf Gedenktafeln für die Opfer des Nationalsozialismus finden wir oftmals den Begriff »Sachor«. Das heißt auf Deutsch: Erinnere dich. In unserem Wochenabschnitt Ha’asinu wird die wichtige Bedeutung des Erinnerns unterstrichen: »Erinnere dich der vergangenen Tage, verstehe jede Generation, frage deinen Vater, und er wird es dir erklären, deinen Großvater, und er wird es dir erzählen.«
Geschichte zu verstehen bedeutet, die richtige Wertschätzung im Leben zu haben. Wenn man die Vergangenheit richtig analysiert, kann man Fehler in der Gegenwart vermeiden. Ein jüdisches Sprichwort sagt: Der einfache Mann lernt aus seinen eigenen Fehlern, der Weise lernt aus den Fehlern der anderen. Wir müssen lernen, G’ttes Hand in der Geschichte der Menschheit zu erkennen, um die richtigen Schlüsse aus der Geschichte ziehen zu können. Wir dürfen es nicht zulassen, dass die gleichen Fehler wiederholt werden. So schreibt der bekannte Journalist und Historiker William L. Schirer in seinen Buch Aufstieg und Fall des Dritten Reiches: »Wer sich nicht an die Vergangenheit erinnert, ist dazu verurteilt, sie zu wiederholen.«
Wenn wir unseren Glauben stärken, können wir G’tt in der Weltgeschichte erkennen, können wir sehen, dass es keinen Zufall gibt – alles ist G’ttesvorsehung. Im 5. Buch Moses, Vers 7 steht geschrieben: »Binu Schnot Dor wa Dor«, auf Deutsch: Verstehe jede Generation. Das heißt, wir können nicht blind die Regeln, die in der Vergangenheit funktioniert haben, in der heutigen Welt anwenden. Jede Generation ist verschieden. Wir können nicht zu Jugendlichen heute sprechen, wie wir noch vor vier Jahrzehnten gesprochen haben. Wir müssen in der Erziehung neue Wege beschreiten. Wir können nicht unbedacht sagen: »So war es schon immer, und deshalb hat es so zu bleiben. Lerne aus der Geschichte, doch behalte im Sinn, dass sich jede Generation von der anderen unterscheidet. Die Zeiten ändern sich, und die Umstände ändern sich auch. Manchmal müssen wir etwas ändern und uns neu orientieren, statt stehen zu bleiben. G’ttesdienste müssen den Wünschen der Jugendlichen angepasst werden. Wir müssen lernen, Brücken zu bauen zu unseren Jugendlichen.
Im Grunde gibt es zwei Arten von Generationen. Wenn wir die vergangenen 100 Jahre anschauen, dann können wir zwei Muster erkennen, die sich in der Geschichte immer wiederholen: Eine Generation ist spaßorientiert, und die andere ist ideologieorientiert. Die erste Hälfte des vergangenen Jahrhunderts war geprägt von der Suche nach der richtigen Weltanschauung. Kommunismus, Demokratie, Nationalismus waren die neuen Weltanschauungen in einer neuen Welt. Man wurde für verrückt erklärt, wenn man nicht Teil einer ideologischen Gruppierung war.
In den 50er-Jahren änderte sich das. Spaß steht seither im Vordergrund. Welche Klamotten sind in? Wo kann man gut weggehen? Politisches Engagement ist out. Und was noch viel schlimmer ist: Immer weniger junge Menschen engagieren sich sozial.
Die jüdischen Gemeinden aber brauchen junge Menschen, die aktiv sein wollen. Nur so kann das Judentum in Deutschland wachsen und gedeihen. Persönlicher Einsatz ist so wichtig. Wir müssen etwas aufbauen, jeder von uns ist ein wichtiges Glied in der Kette. Es gibt viele Möglichkeiten, sich in der Gemeinde zu engagieren. Jeder kann so viel beitragen und seine eigenen Fähigkeiten und Ideen für ein interessantes Gemeindeleben mit einbringen: angefangen beim Aufbau eines Jugendminjans, der Arbeit in der Chewra Kadischa, der Beerdigungsbruderschaft bis zur Fürsorge für alte und kranke Gemeindemitglieder – man kann so viele positive Akzente setzten.
Nach dem Holocaust sahen die meisten deutschen Juden Deutschland nur als eine Durchgangsstation. Doch inzwischen ist eine Generation herangewachsen, die hier Leben und ihre Zukunft sieht. Die heranwachsende Jugend ist es, die neue Akzente setzen muss. Das Motto sollte lauten: »Weg vom Fernsehen und rein in die aktive Jugendarbeit der Gemeinde. Jeder mit seinen Fähigkeiten.« Rabbiner Joseph Carlebach (1883–1942) schrieb: Stelle dich daher der jüdischen Gesellschaft zur Verfügung! Suche deine Glaubensbrüder zu heben, ihnen durch herzliches Entgegenkommen den Sinn für hohe jüdische Ideale zu wecken. Gib ihnen von deinem Überfluss und enge dein Herz und deinen Verkehr nicht selbstsüchtig ein.« Wenn wir uns diese Worte zu Herzen nehmen, so wird das neue Jahr ein wunderbares. Ein Jahr in dem wir uns vereint für unsere Brüder und Schwestern einsetzen.
Der Autor ist Jugendrabbiner der Israelitischen Kultusgemeinde München.