von Sabine Demm
Es war ein Mal ein Junge in einem kleinen Dorf in der Normandie. Als er etwa 13 Jahre alt war, kam sein von der Familie getrennt lebender Vater zu Besuch und hatte ein Buch in einer unbekannten Sprache bei sich. Der Vater ist Jude. Er erklärt, daß die fremde Sprache Jiddisch sei, die fast ausgestorbene Mundart der aschkenasischen Juden, dem Deutschen nicht unähnlich. Fortan übte das Buch – Rosinkes mit Mandlen, jüdische Witze in lateinischen Buchstaben – eine unheimliche Anziehungskraft auf den Jungen aus. Der kleine Franzose, der nicht religiös erzogen wurde, war erst im Alter von sieben Jahren mit seinen Eltern aus Marokko nach Frankreich gekommen und hatte in dem Dorf nie richtig Anschluß gefunden. Statt mit Altersgenossen um die Häuser zu ziehen, schrieb der Junge das Buch, das er nicht verstand, Seite für Seite ab. So brachte er sich die fremde Sprache selbst bei. Heute ist er weltweit einer der wenigen Menschen, die vom Jiddischen leben können.
Was wie ein Märchen klingt, ist wahr. Der Junge heißt Simon Neuberg, ist nun 44 Jahre alt, Professor in Trier und einer von zwei Lehrstuhlinhabern der Jiddistik in Europa. Neuberg könnte mit seinem dunklen Lockenkopf und dem Pullover glatt als einer seiner eigenen Studenten durchgehen. Seine Wohnung liegt gleich gegenüber dem Unigebäude. Die auffälligsten Einrichtungsgegenstände im Wohnzimmer sind die bis zur Decke vollgestopften Bücherregale.
Neuberg sitzt mit seiner Frau Anne am Eßtisch bei einer Tasse Roibuschtee. Stolz blickt er auf seine zweijährige Tochter Alix Trayne, die Puzzleteile aus hebräischen Buchstaben in eine Schablone steckt. »Zeher gut, Traynele, oyser geveyntlekh« – »sehr gut, außergewöhnlich«, lobt der Vater. Neuberg spricht zu Hause Jiddisch mit der Kleinen. Ihre Mutter, Anne Elies-Neuberg, spricht mit ihr Französisch und wenn sich die Familie außerhalb der Wohnung bewegt, ist die Umgangssprache Deutsch.
Simon Neuberg lehrt nicht nur Jiddisch, er lebt es. Deshalb bekam die Tochter nicht nur den französischen Namen »Alix«, sondern auch den jiddischen »Trayne«, was dem altfränkischen Kathrein oder Kathrine entspricht. Gerufen wird das Mädchen von allen »Traynele«.
Sie soll mit Jiddisch als Muttersprache aufwachsen, ebenso wie das zweite Kind, das die Neubergs im kommenden April erwarten. »Es ist ein Experiment, einem Kind eine Sprache beizubringen, die man selbst nicht als Muttersprache spricht«, erklärt Neuberg. Die Eltern stecken viel Zeit in die Erziehung ihres Kindes. »Wir lernen selbst dabei«, ergänzt seine Frau, die sich für die Leidenschaft ihres Mannes begeistert. Die Diplomübersetzerin und Bibliothekarin lernt seit zwei Jahren Jiddisch: »Ich will verstehen, was mein Mann beruflich macht. Außerdem will ich nicht außen vor stehen, wenn wir Jiddisch sprechende Gäste im Haus haben«, sagt sie.
Damit Trayne nicht immer nur ihren Vater hört, verbringt die Familie ihren Urlaub auch mal in Israel, wo die Neubergs sich dann als einzige Nichtjuden im orthodoxen Jerusalemer Viertel Mea Schearim aufhalten. »Wir sind ein Kuriosum. Der Großteil der Jiddischsprecher ist jüdisch-orthodox oder bereits relativ alt«, erzählt Simon Neuberg.
Trayne wird nicht religiös erzogen. Weil das Jiddische aber stark mit dem Judentum verbunden ist, gibt es wenig weltliche jiddische Literatur und noch weniger Kinderbücher. Ein paar Klassiker wie der Struwwelpeter oder Die kleine Raupe Nimmersatt sind erhältlich. »Wir haben alles, was es auf dem weltlichen Sektor gibt«, sagt Neuberg. Doch das war ihm zu wenig. So übersetzte und gestaltete er selbst den amerikanischen Kinderklassiker The Gruffalo für seine Tochter. Er würde das Buch gerne einem Verlag anbieten.
Die Besessenheit von der alten jüdischen Sprache habe mehrere Gründe, erzählt der Wissenschaftler. »Ich habe mich schon immer sehr für Sprachen interessiert. Außerdem hat es sicher auch mit der Geschichte meines Vaters zu tun.« Dieser wurde als jüdischer deutscher Junge in Frankreich vor den Nazis versteckt und überlebte so die Schoa. Seine Eltern kamen in Auschwitz um. Später arbeitete Neubergs Vater als Deutschlehrer in Frankreich und Marokko, wo sein Sohn Simon 1961 geboren wurde. Zu Deutschland fand er bis zu seinem Tod nie wieder einen Bezug.
Nachdem Simon Neuberg Rosinkes mit Mandles übersetzt hatte, wollte er unbedingt ein jiddisches Buch mit hebräischen Schriftzeichen haben. Doch das zu bekommen, war in der französischen Provinz nicht einfach. Die Gelegenheit dazu bot sich erst, als er mit etwa 16 Jahren auf dem Weg zum Schüleraustausch nach Deutschland war. Die Reise von der Normandie nach Marburg führte über Paris. Dort traf er seine Cousine. Als diese fragte, was er in Paris erleben wolle, lautete seine Antwort: »Ich will ein echtes jiddisches Buch kaufen.« Neuberg fügt lachend hinzu: »Viele hätten mich für verrückt erklärt, doch sie verstand mich.« Neuberg erstand Eisenbahngeschichten von Scholem Alejchem. Auch seinen ersten jiddischen Gesprächspartner traf Neuberg, allerdings erst Jahre später, in Paris: den Jiddischlehrer Yitskhok Niborski.
Nach dem Germanistikstudium leistete Neuberg Wehrersatzdienst als Französischlehrer im Sultanat Oman. »In dieser Zeit konnte ich mich überhaupt nicht mit Jiddisch beschäftigen. Dennoch ist mein Interesse dafür nie erloschen.« Nach der Zeit im Oman wollte Neuberg seine deutschen Sprachkenntnisse auffrischen. »Ich hatte irgendwo gehört, daß es in Trier Jiddisch an der Uni gibt«, erzählt Neuberg. Mit Mitte zwanzig bekam er dort tatsächlich eine Stelle als studentische Hilfskraft bei der Germanistik- und Jiddistik-Professorin Erika Timm. Nebenbei studierte er das Fach. Seit 1970 gehört Jiddistik in Trier zur Germanistik, seit 1990 gibt es einen Lehrstuhl. 1995 promovierte Neuberg und habilitierte sich 1999. Die Zeit drängte, denn Timm war in den Ruhestand gegangen und er wollte sich auf den Lehrstuhl bewerben. 2001 bekam er den Zuschlag.
Außer in Trier gibt es seit 1996 auch in Düsseldorf einen Lehrstuhl für Jiddistik. Die beiden Universiäten bilden deshalb das Zentrum der Forschung in Europa. Seit acht Jahren veranstalten sie jährlich ein Symposium, das inzwischen weltweit beachtet wird. Letzteres ist wichtig, denn Jiddisch ist vom Aussterben bedroht. Nur noch geschätzt drei Millionen Menschen verstehen die Sprache, die sich im 13. Jahrhundert als Sprache der Juden aus dem Mittelhochdeutschen entwickelte. Vor der Schoa gab es etwa zwölf Millionen Jiddisch-Sprechende, die meisten davon in Osteuropa. Heute gibt es außerhalb der orthodoxen Gemeinden nur noch einzelne Gruppen in den von Juden bewohnten Großstädten in Europa, den USA, Israel und Argentinien. Doch auch im Deutschen, das etwa tausend Jiddismen kennt, lebt die alte Sprache weiter: Schlamassel, meschugge, Stuß sind nur einige jiddische Wörter, die jeder kennt.
In Trier beschäftigen sich die Wissenschaftler mit der älteren und neuen jiddischen Sprachgeschichte sowie Literatur. Außerdem werden Sprachkurse angeboten. Neuberg, der mit viel Herzblut an einem deutsch-jiddischen Wörterbuch arbeitet, stellt eine positive Entwicklung fest: »Es gibt eine Renaissance und Rückbesinnung auf die alte Sprache. Auch junge Leute sind wieder gewillt, Jiddisch zu sprechen und an ihre Kinder weiterzugeben.« Zwar ist es nur eine kleine Gruppe der Germanistikstudenten, die Seminare der jiddischen Sprach- und Literaturgeschichte wählen. Nur wenige von ihnen lernen darüber hinaus wirklich die Sprache und die Buchstaben. Doch alle, die Feuer gefangen haben, sind mit Eifer und Begeisterung bei der Sache.
So wie Ane Kleine, Neubergs wissenschaftliche Mitarbeiterin, die bereits ihren Doktor in Jiddistik hat und die Professur anstrebt. Auch sie spricht viel und gerne Jiddisch. Wenn man sie fragt, was sie daran interessant findet, grinst sie nur und sagt: »Es ist halt die schönste Sprache der Welt.«