von Micha Guttmann
Immer weniger Juden definieren sich über ihre Religion. Ein großer Teil gerade der jungen Leute steht religiösen Traditionen skeptisch bis ablehnend gegenüber. Dies ist repräsentativen Umfragen zu entnehmen, deren Ergebnisse nicht nur für Deutschland gelten. Die Entwicklung kommt nicht von ungefähr. Die meisten Befragten gaben an, sie seien in einer »nicht« oder nur »etwas« religiösen Familie aufgewachsen.
Die Jüdischen Gemeinden stehen damit vor einem großen Problem: Wie lassen sich gerade auch junge Familien wieder stärker für die Gemeinde und letztlich auch für religiöse Überzeugungen des Judentums gewinnen? Seit Jahrzehnten gibt es hier Defizite, nicht zuletzt, weil nach der Schoa kaum Rabbiner zu finden waren, die sich am Aufbau in den deutschen Gemeinden beteiligen wollten – von jungen Rabbinern ganz zu schweigen.
Das hat sich inzwischen grundsätzlich geändert. Es gibt wieder Rabbiner, auch junge Leute, die bereit sind, die religiösen Aufgaben in einer Gemeinde zu übernehmen. Doch die lange Vakanz in den vergangenen Jahrzehnten zeigt noch Folgen. Es hat sich, anders als etwa in den USA, keine einvernehmliche Kultur entwickelt, wie Gemeinden und Rabbiner miteinander umgehen sollen. Beide Seiten, Vorstände und Rabbiner, definieren ihre Vorstellungen, wie das Amt des Rabbiners auszufüllen ist, oftmals höchst unterschiedlich. Aber die Streitpunkte sind häufig dieselben: Es geht um religiöse und kulturelle Gestaltungshoheit innerhalb der Gemeinden, um Zuständigkeiten in den Beziehungen zur nichtjüdischen Umwelt und nicht zuletzt um Macht und Einfluss. Hierbei sind weder Rabbiner noch Vorstände frei von Eitelkeiten. Die Folge: Es kommt oft zu erheblichen Differenzen und damit zum Streit, der nicht selten bis vor die Arbeitsgerichte führt. Für deutsche Richter ist der Rabbiner aber nichts anderes als ein Angestellter der Gemeinde, für den grundsätzlich die gleichen Rechte und Pflichten gelten wie für einen Angestellten in einem Unternehmen oder einer öffentlich-rechtlichen Körperschaft. Das deutsche Arbeitsrecht hat keine »Spezialregeln« für Rabbiner entwickelt. So kann es vorkommen, dass Entscheidungen der Arbeitsgerichte weder Rabbiner noch Gemeinden befriedigen und befrieden. Dies wäre vermeidbar, wenn sich für alle Gemeinden verbindliche Regeln finden ließen, die beide Seiten akzeptieren und die beruflichen Status und Aufgabengebiete der Rabbiner festlegen. Die meisten Prozesse vor Arbeitsgerichten könnten damit verhindert werden.
Dem gedeihlichen Miteinander wäre zudem dienlich, wenn Rabbiner zusätzlich zu ihrer religiös-rabbinischen Ausbildung auch über die Fähigkeit verfügten, auf Menschen zuzugehen und ihre Probleme zu verstehen. Gruppen wie Chabad machen das erfolgreich vor. Gerade in Gemeinden mit hohem Integrationsdruck und abnehmender religiöser Bindung ist diese Eigenschaft dringend notwendig. Wer sich als Rabbiner diesem Teil seiner Tätigkeit verschließt, hat den Anschluss an notwendige Veränderungen in der jüdischen Gemeinschaft verpasst. Der Rabbiner muss sich heute als Dienstleister verstehen, mit seinen Fähigkeiten, Menschen in religiösen Fragen zu beraten und ihnen in Moral- und Gewissenskonflikten zu helfen. Dabei zeichnet den erfolgreichen Rabbiner vor allem auch eine kritische Distanz zu sich selbst aus. Letztlich wird es nicht der Arbeitsvertrag sein, sondern immer die Kompetenz und die Anerkennung durch die Gemeindemitglieder, auf die sich die Legiti- mität eines Rabbiners stützt.
Die Gemeinden sind die Arbeitgeber. Es darf keinen Zweifel daran geben, dass sie das Umfeld des Rabbiners bestimmen, in dem er dann allerdings selbstständig und ohne Anweisung tätig sein darf. Es ist wiederum Sache der Gemeindemitglieder, welcher religiösen Strömung sie angehören wollen. Aufrichtigkeit und Klarheit sind hier angesagt. In den vergangenen Jahren gab es nicht selten Probleme, da die Gemeinden sich selbst als orthodox oder konservativ deklarierten, die große Mehrheit der Mitglieder allerdings nicht dahinterstand. Ein orthodoxer Rabbiner konnte hier nur scheitern, da seine religiösen Überzeugungen auf Widerspruch stoßen mussten.
Klarheit und Wahrheit bei der Vertragsgestaltung helfen hier weiter. Noch wichtiger aber ist, dass die Gemeinden bereits in der Ausschreibung einer Rabbinerstelle ihre eigenen Bedürfnisse klar formulieren. Nur dann wird es ihnen gelingen, den für sie geeigneten Bewerber zu finden. Junge Rabbiner haben in Deutschland zur Zeit jedenfalls beste Berufschancen.
Der Autor ist Rechtsanwalt und Journalist und war von 1986 bis 1992 Direktoriumsmitglied sowie Generalsekretär des Zentralrats der Juden in Deutschland.