von Jonathan Scheiner
Leonard Bernstein (1918-1990) war, wie jeder weiß, ein jüdischer Komponist. Und das nicht nur im Sinn seiner Herkunft. Das Oeuvre des Mannes, der vornehmlich durch sein Musical West Side Story bekannt wurde, ist von jüdischen Themen durchzogen. Schon seine 1. Symphonie (1943) trägt den Titel Jeremiah und thematisiert Biblisches, ebenso wie Haskiveinu (1945). Die jüdische Identität des Komponisten spiegeln auch die Chichester Psalms (1965), die Suite No. 1 (1974) und natürlich seine Symphonie Nr. 3, Kaddish. Zwar trägt das 1963 verfasste Stück ursprünglich die Widmung »To The Beloved Memory of John F. Kennedy«. Doch geht es in Kaddish, so Bernsteins älteste Tochter Jamie Bernstein Thomas, nur vordergründig um den 1963 ermordeten Präsidenten, sondern vor allem um Leonard Bernsteins eigenes »Ringen mit seinem Vater, seinem Gott, seiner Religion«.
Uraufgeführt wurde das 40 Minuten lange Stück für Orchester, Chor und Sopransolo am 9. Dezember 1963 in Tel Aviv. Die Schauspielerin Hannah Rovina rezitierte damals den auf der traditionellen jüdischen Liturgie basierenden düsteren Text in Aramäisch und Hebräisch. Der Komponist hat später aus dem ursprünglich vierteiligen Stück ein siebenteiliges gemacht und andere Veränderungen vorgenommen. Aber es war vor allem der Text, mit dem Bernstein lange gehadert hat. 1989 lernte er dann bei einem Konzert zum 50. Jahrestag des Beginns des Zweiten Weltkriegs den Rezitator Samuel Pisar kennen. Bernstein bat Pisar damals, einen neuen Text zu Kaddish zu verfassen. 2003, drei Jahre nach Bernsteins Tod, wurde die Dritte Symphonie mit Pisars neuem Text in Chicago erfolgreich uraufgeführt. Kommende Woche kommt diese Fassung erstmals auch in der Bundesrepublik zur Aufführung. Das Deutsche Symphonieorches- ter DSO wird in Berlin das Stück als deutsche Erstaufführung spielen. Samuel Pisar selbst wird seinen Text rezitieren.
Das kann man nur als Glücksfall bezeichnen. Pisar kannte nicht nur Leonard Bernstein gut. Auch seine eigene Biografie ist ein »Ringen mit Gott«. Der naturalisierte Amerikaner, ein berühmter inter- national agierender Anwalt, Berater mehrerer US-Regierungen, Ehrendoktor zahlreicher Universitäten, hat die Hölle der Schoa er- und überlebt. Geboren 1929 in Bialystok kam er als 13-Jähriger nach Majdanek, später nach Auschwitz und Dachau. Seine Erlebnisse dort hat Pisar in seiner Autobiografie Of Blood And Hope niedergeschrieben. Als Bernstein ihn 1989 bat, den neuen Text zu Kaddisch zu verfassen, entschloss Pisar sich nur widerwillig, das Angebot anzunehmen: »Ich hatte meine eigene Beziehung zu Gott noch nicht in Ordnung gebracht. Er war nicht da gewesen, während der Holocaust geschah.«
Seine lyrischen Verse bezeichnet der Autor als »Dialog mit Gott«. Es ist ein zorniger Dialog. Wie Hiob klagt Pisar den Schöpfer an, wirft ihm eigenes und fremdes Leid vor. Doch er will seinen Text auch als weltliches, modernes und universelles Kaddisch verstanden wissen, das seine Suche nach Frieden widerspiegelt: Frieden mit den Menschen, die für Auschwitz verantwortlich sind. Und mit Gott, der Auschwitz nicht verhindert hat.
Aufgeführt wird Kaddish am 22. und 23. Mai in der Philharmonie Berlin unter Leitung von Yutaka Sado . Der 1961 geborene japanische Dirigent hat ein enges Verhältnis zu dem Stück und seinem Komponisten. Sado arbeitete ab 1987 mit Bernstein zusammen, war unter anderem mit ihm auf Tournee durch Russland und Deutschland. 1990 dirigierte er beim Leonard Bernstein Memorial Concert in New York. Unter seiner Leitung entstand auch bereits eine wegweisende Einspielung des Kaddish bei Erato Disques.
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