Der Grabstein ist mehr als 800 Jahre alt, die hebräische Inschrift verwittert: »Unser Meister Menachem, der Sohn des Jaakow, Vater der Weisheit, Lehrer, Ausleger und Dichter - und an nichts mangelte es ihm.« Die Zeilen erinnern an Menachem ben Jaakow, einen einst berühmten Rabbiner. Seine letzte Ruhe fand er auf dem Heiligen Sand - dem ältesten erhaltenen jüdischen Friedhof Europas in Worms.
Das verwunschene Gelände mit seinen rund 2500 noch sichtbaren Grabsteinen ist seit jeher Pilgerziel frommer Juden aus aller Welt. Bald könnte es noch viel bekannter werden - falls die Unesco den Friedhof und andere Zeugnisse der jüdischen Kultur am Rhein als Welterbe anerkennt.
Tagung Seit über 15 Jahren bemüht sich das Land Rheinland-Pfalz um die Auszeichnung für die sogenannten SchUM-Stätten in Mainz, Worms und Speyer. Bei einer Online-Tagung des Welterbekomitees der Unesco am 27. Juli soll nun nach jahrelanger Vorbereitung über den Antrag abgestimmt werden. »Wir fühlen uns schon lange als Stadt der Religionen«, erklärt der Wormser Oberbürgermeister Adolf Kessel (CDU). Eine Anerkennung als Welterbe wäre eine weitere enorme Aufwertung für die Stadt. Es gehe aber auch darum, das jüdische Erbe besser erhalten zu können.
In Mainz gibt es Überlegungen für einen touristischen Rundweg auf den Spuren des Judentums.
Im Mittelalter bildeten die drei jüdischen Gemeinden in Speyer, Worms und Mainz den SchUM-Verbund, benannt nach den Anfangsbuchstaben der mittelalterlichen hebräischen Städtenamen. Die Region wurde zum Zentrum der mitteleuropäischen jüdischen Kultur und Theologie. Gelehrte wie Rabbi Salomon ben Isaak, genannt Raschi, verfassten hier Bibel- und Talmudkommentare, die bis heute in der jüdischen Welt Beachtung finden.
Die Architektur der SchUM-Synagogen wurde stilbildend für viele andere Gemeinden in Europa. Und nicht zuletzt entstand hier am Rhein die Grundlage für die später in Osteuropa weit verbreitete jiddische Sprache. »Die prägende geistige Kraft von SchUM für das Judentum kann gar nicht hoch genug eingeschätzt werden«, notierte der 2020 verstorbene Theologe Otto Böcher.
Mikwe Bis in die Gegenwart blieben aus dieser Zeit aber nur wenige sichtbare Spuren erhalten. Zur Anerkennung als Unesco-Welterbe sind neben dem Friedhof Heiliger Sand und dem Gelände der Wormser Synagoge auch der Judenhof in Speyer mit seiner uralten Mikwe - dem jüdischen Ritualbad - und die alten jüdischen Grabsteine auf dem Mainzer Judensand vorgeschlagen worden. Der erst nach der Jahrtausendwende eingeweihte spektakuläre Synagogen-Neubau in Mainz wurde hingegen nicht nominiert. »Die neue Synagoge ist fantastisch«, sagt Susanne Urban, Geschäftsführerin des Vereins der SchUM-Städte. »Aber damit hätten wir uns selbst den Antrag torpediert.«
Von Synagoge und »Frauenschul« in Speyer blieben nur Ruinen.
Der Mangel an authentischen historischen Orten sei von Anfang an ein Problem auf dem Weg zur Aufnahme in die Welterbeliste gewesen, erklärt Andreas Lehnardt, Professor für Judaistik an der Mainzer Gutenberg-Universität. Jüdische Besucher kämen oft wegen der Aura von Mainz und der anderen SchUM-Städte in die Region. »Manche meiner Gäste sind dann eher enttäuscht. Aber das spiegelt eben auch die jüdische Geschichte in Deutschland wider.« Er selbst hätte sich gewünscht, dass auch das immaterielle jüdische Erbe der Städte am Rhein stärkere Berücksichtigung findet.
Als Folge zahlreicher Kriege, judenfeindlicher Pogrome und der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft grenzt es an ein Wunder, dass überhaupt noch Spuren der großen jüdischen Vergangenheit von Mainz, Worms und Speyer zu finden sind. So wurde der alte Mainzer Judenfriedhof im Laufe der Jahrhunderte geplündert und viele Grabsteine als Baumaterial verwendet. Die heutige Anlage entstand erst Anfang des 20. Jahrhunderts, als auf Initiative der örtlichen jüdischen Gemeinde alte Grabsteine aus allen Stadtteilen am historischen Standort zusammengestellt wurden.
Ruinen Die Synagoge in Worms wurde von den Nationalsozialisten dem Erdboden gleichgemacht und erst nach 1945 originalgetreu wieder aufgebaut. Von Synagoge und »Frauenschul« in Speyer blieben nur Ruinen. Welche Folgen eine positive Entscheidung der Unesco haben würde und wie viel Tourismus an den Welterbestätten überhaupt erwünscht wäre, haben die Verantwortlichen noch nicht abschließend geklärt.
»Das letzte Wort hat die Jüdische Gemeinde«, stellt der Wormser Oberbürgermeister Kessel klar. In Mainz gibt es Überlegungen für einen touristischen Rundweg auf den Spuren des Judentums: Stationen könnte es am Jüdischen Friedhof geben, an der neuen Synagoge und in der Stephanskirche mit ihren Kirchenfenstern von Marc Chagall, die als Symbol der christlich-jüdischen Versöhnung gestaltet wurden. Das eigentliche Friedhofsgelände aber soll für Besucherinnen und Besucher tabu bleiben. Nach den bisherigen Plänen können sie das Gelände in der Regel nur von einem Besucherpavillon aus betrachten.