von Rabbinerin Irit Shillor
Das Fünfte Buch Moses heißt auf Hebräisch Dewarim und bedeutet »Wörter«. Am Anfang des Buches sehen wir die Israeliten am Ufer des Jordan – bereit ins Gelobte Land hinüberzuziehen. Moses weiß, daß seine Tage als Führer des Volkes Israel gezählt sind. Das Ende seines Lebens ist erreicht. Er nutzt die Gelegenheit, seinem Volk letzte Worte der Weisheit, Ermutigung und Ermahnung mit auf den Weg zu geben. Das Buch Dewarim ist eine einzige Ansprache, gleichsam Moses’ Schwanengesang.
Diese Rede zieht sich über den Zeitraum von zwei Wochen und stellt den Abschluß der vierzigjährigen Wanderung der Israeliten dar. Die Zeit der harten Prüfungen und Trübsal haben sie letztendlich hinter sich gelassen und können sich über den neuen Anfang im Gelobten Land freuen.
An diesem Punkt erhält Moses die Anweisung, dem Volk Israel die Tora erneut zu erläutern. Es gab viele Juden, die behaupteten, daß die Gesetze der Tora nur für die Zeit in der Wüste gedacht waren, solange sie weit weg vom Heiligen Land wanderten und unter sich lebten. Um unter anderen Völkern und in anderen Kulturen zu leben, dürften sie sich nicht von ihren Nachbarn absondern, indem sie sich an die Tora und ihre Gebote halten.
Um diese Argumentation zu widerlegen, erklärte Moses den Kindern Israel das Gesetz in 70 verschiedenen Sprachen, bevor sie das Gelobte Land betraten. Er wollte seinem Volk endgültig klarmachen, daß sie die Tora zu befolgen haben, ganz gleich, in welchem Land sie sich aufhalten. Die Tora gilt für alle Zeiten und für alle Länder. Sie ist unveränderlich.
Rebbe Simchah Bunem von Prszysucha, ein großer chassidischer Weiser, lehrte, daß jedes von Moses geäußerte Wort an ganz Israel gerichtet sei. In der Tat betont er, Moses habe zu jedem einzelnen nach seinem Charakter und seinem Alter, oder nach seiner Einsicht und Auffassungsgabe gesprochen. In heutigen Begriffen würden wir sagen, Moses hat über unglaubliche pädagogische Fähigkeiten verfügt. Der größte Lehrer, den unser Volk je hatte, verstand, daß jeder nach seiner eigenen Art und Weise lernt, und er redete so, daß jeder ihn verstehen konnte.
Moses’ Entwicklung hin zum inspirierten Lehrer und Redner ist indes nicht ohne Ironie. Die Eröffnungsworte unseres Buches weisen darauf hin. Wir sollten nicht vergessen, daß Moses 40 Jahre zuvor ein nicht gerade redegewandter Mann gewesen war. Als junger Schäfer hatte er auf Gottes Geheiß am brennenden Dornbusch, sich gegen den Pharao zu wenden und sein Volk aus der Knechtschaft zu führen, mit den Worten reagiert: »Ich bin kein Mann der Rede«. (2. Buch Moses, 4,10) Inzwischen ist er jedoch zum Meister der Rede und Rhetorik geworden, durchaus in der Lage, ein ganzes Buch zu füllen und sein ganzes Volk zu inspirieren.
Rabbiner Pinchas Peli erklärt, daß Gott eben einen Mann der Tat, nicht einen Mann der Rede gebraucht hatte. Man hätte auch den Rest seines Lebens damit verbringen können, feurige Reden über die Bedeutung der Freiheit zu halten, statt das Volk in die Freiheit zu führen, damit es deren Bedeutung am eigenen Leib erfahren konnte. Als Moses die Mission übernahm, die Israeliten aus Ägypten zu führen, mußte er wenig reden und viel tun. Erst viele Jahre später, nach jahrelanger Erfahrung, durfte er zu einem Mann der Rede werden. Die Zeit zu sprechen kommt am Ende einer Mission. Als er nur wenige Tage vom Tod entfernt steht, kann er die knappe Zeit nutzen, um dem Volk seine Gedanken und Gefühle mitzuteilen.
Es war nicht einfach für Moses, von Gott und Gottes großen Taten zu sprechen. Viele Menschen mit Nahtoderfahrung berichten, daß sie sich in der Zeit vor diesem Erlebnis von der Welt abgesondert gefühlt haben, als sei ihnen das Bevorstehende bewußt gewesen und als hätten sie Zeit gebraucht, sich darauf vorzubereiten.
Mit seinem Tod änderte sich das Leben für das ganze Volk Israel. Sie haben das Gelobte Land bekommen, so wie es Gott den Vätern versprochen hat. Josua bin Nun wurde von Moses zu seinem Nachfolger gesalbt, der das Volk weiter führen wird. Sie lernen die Tora von neuem, um die Gebote Gottes im freien Land als freies Volk zu erfüllen.
Dieser Abschied war trotzdem sehr schmerzvoll. Moses wurde es verwehrt in das Gelobte Land hinüberzukommen, was sein größter Lebenstraum gewesen war. Die Israeliten konnten es sich wohl kaum vorstellen, ohne Moses weiterzuleben: Er, der sie aus Ägypten herausgeführt und 40 Jahre in der Wüste begleitet hatte, sie verteidigt und für sie gebetet hatte.
Moses starb in dem Wissen, daß er in seinem Leben etwas erreicht hatte, auch wenn viele Ziele nicht verwirklicht werden konnten. Der Tod eines Menschen kann uns seine wundervollen Eigenschaften zu Bewußtsein bringen und uns damit bereichern. Und wenn wir bereit sind zuzuhören, können wir manche dieser Eigenschaften in uns aufnehmen und durch sie bessere Menschen werden. Dann werden wir auch bereit, die Wörter der Tora zu hören und sie mit neuer Einsicht und Aufnahmebereitschaftzu zu studieren. Jeder Tod verändert uns, und wenn wir bereit sind, aus ihm zu lernen, verändert er uns zum Guten.
Dewarim: 5. Buch Moses 1,1 - 3,22