Das Wort Kiddusch steht nicht nur für den Segen, den man am Schabbat über Wein und Challot spricht. Es bezeichnet auch den im Stehen verzehrten Imbiss, zu dem man sich nach dem Gottesdienst versammelt.
»Der Mensch lebt nicht vom Brot al-
lein«, sagt Wolfgang Nossen, Vorsitzender der Gemeinde in Erfurt lachend, »und deswegen gibt es bei uns noch ein bisschen was dazu.« Dieses Bisschen mehr hat Nossen einige Jahre lang persönlich zubereitet, schließlich ist er gelernter Koch. Mittlerweile sorgen eine Angestellte des Kulturzentrums und zwei ehrenamtliche Helferinnen für Kuchen und Salate.
Auch wenn viele natürlich nach dem Gottesdienst nach Hause gehen, weil sie dort einfach schneller an ihr Essen kommen – die Mehrzahl der Erfurter Beter bleibt zum Imbiss, vor allem weil »es ein gewisses gesellschaftliches Ereignis ist. Man kommt ins Gespräch, kann Neuigkeiten erzählen, von Problemen berichten und Ratschläge geben«, erzählt Nossen.
Aber ist wirklich der Kiddusch die erste Mahlzeit des Tages? »Ich weiß es nicht,« sagt Rabbiner William Wolff, »das sagt mir natürlich niemand.« Das gemeinsame Essen sei schon eingeführt worden, bevor er nach Schwerin gekommen sei, erklärt Valeriy Bunimov, Vorsitzender der Ge-
meinde. Natürlich sei es nicht ganz billig, Wein und einen kleinen Imbiss anzubieten, sagt er. Aber aus Kostengründen keinen Kiddusch zu haben, käme selbstverständlich nicht infrage.
»Unsere Vorfahren haben das schon vor vielen 100 Jahren so gemacht, wir müssen nach dem Gottesdienst zusammensitzen, koscheren Wein trinken und etwas essen. Das gehört zum jüdischen Leben dazu.« So bemüht man sich in Schwerin, günstige Angebote zu nutzen und Rabatte für Großbestellungen zu erhalten, »denn natürlich können wir keinen Wein für zehn Euro die Flasche kaufen, das geht einfach nicht«.
Zusammenhalt Besonders für die Zu-
wanderer sei der Imbiss ein wichtiger Bestandteil des Gemeindelebens. »Auch weil der Rabbiner da ist und Fragen beantwortet.« Ein ganz normales jüdisches Leben zu führen, sei für viele Zuwanderer früher nicht selbstverständlich gewesen, weiß Bunimov aus seiner eigenen Kindheit. »Als ich klein war, gab es in meiner Famile einen alten Mann, der früher, vor der Revolution, in der Jeschiwa gelernt hatte. Er hat dann den Gottesdienst mit Gebeten auf Hebräisch gehalten. Als er starb, war Schluss. Damals war ich acht Jahre alt. Kultur, Geschichte, Tradition meiner Religion habe ich dann erst viele Jahre später hier in Deutschland gelernt.«
In Bielefeld hatte man im Sommer ei-
nen besonderen Kiddusch, wie die Vorsitzende der dortigen jüdischen Gemeinde, Irith Michelsohn, schwärmt. »Im Garten unseres neuen Gemeindehauses zu sitzen, inmitten blühender Blumen, während die Vögel zwitscherten und die Kinder toben konnten, das war ein erhebendes Erlebnis.« Auch für die älteren Leute sei das wunderschön gewesen. Diesem ersten Kiddusch im Freien folgten weitere, sofern das Wetter mitspielte.
Aber ob drinnen oder draußen, der Kiddusch am Freitagabend besteht auch in Bielefeld aus weit mehr als nur einem Schluck Wein und einem Bissen Brot. Salat und belegte Brote, Fisch und Käse gehören zum Stehimbiss. Am Samstag gibt es ein aus kalten und warmen Zutaten bestehendes Frühstück. »Das ist es uns einfach wert«, sagt Michelsohn. »Natürlich achten wir beim Einkauf darauf, sparsam zu sein. Aber es ist nie zu wenig.« Für die Zubereitung sorgt ein Gemeindemitglied aus Ka-
sachstan. Die Frau war früher Köchin.
selbstverständlichkeit Einen Schwer-
punkt des Gemeinde- und des Gottesdienstlebens nennt auch Benzion Wieber, Ge-
schäftsführer der Synagogen-Gemeinde Köln, den Kiddusch. Den man sich in der Domstadt auch einiges kosten lässt. Doch, wie viel seine Gemeinde für den traditonellen Imbiss jährlich ausgibt, will er nicht verraten. »Es ist eine Selbstverständlichkeit, da wird nicht über Geld geredet«, sagt er. »Bei den Haushaltsberatungen gibt es darüber auch keine großen Diskussionen.«
Traditionell findet jeden Samstag nach dem Gottesdienst Kiddusch im Gemeindesaal statt, mit einer Ansprache des Rabbiners und einer Rede des Gabbai. »Man sitzt zusammen, aber man diskutiert natürlich auch den religiösen Vortrag«, erzählt Wieber. »Und damit die Zuwanderer auch alles verstehen, ist es bei uns üblich, dass die Reden ins Russische übersetzt werden.«
Die Kölner Gemeinde hat einen großen Vorteil: Sie verfügt mit dem Restaurant Weiß über eine koschere Speisestätte, die auch für die Zubereitung des Kiddusch zuständig ist. Trotzdem versucht man bei Großveranstaltungen, wie dem Fischessen zu Simcha-Tora, Sponsoren zu finden. »Was nicht leicht ist«, bedauert Wieber. »Der gute Wille ist zwar da, aber die Kos-
ten bleiben dann doch oft an uns hängen.«