Opferung

Zeit schinden

von Rabbiner Tom Kucera

Die Parascha Wajera ist ein schwieriger Text, denn er polarisiert. Viele betonen, dass Awraham ein Musterbeispiel von Jirat schamajim ist, der Ehrfurcht Gottes, mit der er Gottes Auftrag vorbehaltlos durchführen will. Viele andere behaupten, dass sogar die gottesfürchtigsten Menschen im Namen Gottes keinen Mord begehen können, selbst wenn es Gottes Gebot wäre. Wir haben also zwei Seiten: einen blinden Gehorsam und eine moralische Wahl.
Möglicherweise gibt es mehr als zwei Seiten in dieser Geschichte, nach dem Motto: »Schiw’im panim latora« – die Tora hat 70 Gesichter. Welche können es sein? Zum Beispiel: Gott hat Awraham geprüft, ob er sich wirklich zum Mord entscheidet. Oder: Awraham hat Gott geprüft, ob er tatsächlich etwas gegen seine eigenen Gebote anordnen würde. Oder: Gott hat von Anfang an gewusst, dass er Awraham nicht morden lassen wird. Oder: Awraham hat geahnt, dass er es am Ende wahrscheinlich nicht tun muss. Viele Ideen, viel Phantasie. Elie Wiesel hat vorgeschlagen, es so zu sehen: Gott hat einen Fehler gemacht, indem er nach so etwas fragte, und Awraham hat einen Fehler gemacht, indem er zustimmte.
Der Text ist hoch problematisch. Er erweckt den Eindruck, Religion mache blind und führe zu extremistischem Verhalten. Was sagen wir dazu? Der Talmud äußert sich zu dieser Geschichte überraschenderweise sehr zurückhaltend. Er beachtet lediglich, dass Awraham, um seine schwierige Aufgabe zu erfüllen, sehr früh aufgestanden ist und uns damit gezeigt hat, wie fleißig und entschlossen wir in der Erfüllung unserer Aufgaben sein sollen. Es ist ein pädagogischer Gedanke, der aber unser moralisches Problem nicht löst: Kann sich ein Mensch sträuben, wenn er von Gott eine Aufgabe bekommt, die seinem moralischen Empfinden zuwiderläuft? Lasst uns mit »Ja« antworten. Dann müssen wir uns fragen, warum Awraham Gottes Auftrag schweigend annimmt, sich auf den Weg macht, seinen Sohn zu opfern, und bereit ist, Gottes moralisches Gesetz zu entwurzeln.
Stellen wir uns vor, wir sind in einer Firma angestellt, und der Chef gibt uns eine Aufgabe, die so unsinning ist, dass wir sie einfach nicht durchführen können. Werden wir sofort laut protestieren und damit unsere Loyalität schwächen oder gar unsere Stelle gefährden – oder werden wir lieber anfangen, irgendetwas zu tun? Unterschiedliche Dokumente von einem Büro zum anderen tragen, um den Eindruck zu erwecken, dass etwas läuft, und im Hintergrund viele Aktivitäten und Treffen organisieren, mit dem Ziel, dem Chef die Möglichkeit zu geben, seine Entscheidung zu ändern, ohne dass er dabei sein Gesicht verliert?
Ähnlich können wir die Parascha deuten: Awraham beeilt sich nicht. Obwohl er früh am Morgen aufbricht, wie im Talmud hervorgehoben wird, zögert er alles hinaus. Er steht auf, zieht sich an, packt alle nötigen Sachen, bringt die Tiere, schaut in die Gegend, geht mit der ganzen Gruppe, hält an, lässt eine Gruppe hinter sich, kommt am Ort an, baut den Altar auf, nimmt das Holz, bindet seinen Sohn. Bei alledem wartet er darauf, dass sein Chef seine Entscheidung ändert und sagt: »Ich habe es anders gemeint.« Wir wollen hoffen, dass Awraham, wäre er nicht in letzter Minute gestoppt worden, den Auftrag Gottes von selbst abgelehnt hätte. Ein Midrasch behauptet, Gott habe darauf gewartet, dass Awraham sagt: »Es geht nicht.«
Es fällt uns schwer, uns vorzustellen, Awraham habe seinen Sohn opfern wollen, wie Gott es ihm befohlen hatte, und es wäre im auch noch hoch angerechnet worden. Wir wollen uns nicht vorstellen, dass Awraham blinden Gehorsam zeigt und gegen seine tief empfundene Moral handelt. Warum möchten wir es nicht? Weil wir eine Religion haben wollen, mit der wir uns mit unserer Vernunft und unserem moralischen Empfinden identifizieren können. Und auch, weil wir unsere oft unerforschliche Psychologie mit keinem absoluten Anspruch verwechseln möchten.
Awraham wollte nicht seinen Sohn Jitzchak töten, sondern nur die Situation hinauszögern. Er glaubte fest an die Gerechtigkeit und Moral Gottes, der niemals fordern würde, dass diejenigen, die an ihn glauben, sich selbst oder andere umbringen. Diesen Glauben an Gott wollte Awraham behalten.
Wenn wir am Anfang dieser Geschichte die Worte »Elohim nissa et Awraham« (Gott prüfte Abraham) lesen, sollen wir nicht übersehen, dass vom Verb »nissa« auch das Substantiv »nissajon« (Erfahrung) abgeleitet wird. Das praktische Leben besteht aus Erfahrungen. Wenn ich die Straße überquere, tue ich das vor allem aufgrund der gewonnenen Erfahrung: Wie von selbst schaue ich nach links und rechts, ob ein Auto kommt, schätze automatisch die Entfernung ein und überquere die Straße, wenn ich meine, dass der Weg frei ist.
Unser ganzes Leben ist eine gelebte Summe von Erfahrungen. Die Parascha Wajera lehrt uns, dass »nissajon« mit »nissa« verbunden ist. Das heißt, wir sammeln Erfahrungen, wenn wir geprüft werden. Weil diese Prüfungen auch unangenehm sein können, werden sie mit Gott in Verbindung gebracht. Zwar kommen nicht alle Prüfungen von Gott, aber, wenn sie kommen, sollen wir ihnen das Positive entlocken. Das lässt uns voranschreiten.

Der Autor ist Rabbiner der Liberalen jüdischen Gemeinde Beth Shalom in München.

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