von Jonathan Rosenblum
Rabbi Shia Geldzhaler erzählte mir einmal, dass im Antwerpen der Vorkriegszeit fromme Juden in den drei Wochen vor Tischa BeAw nicht gelächelt hätten. Heutzutage spürt man nicht einmal in einer gänzlich orthodoxen Nachbarschaft eine Atmosphäre des Angespanntseins im Monat Elul.
Ein anderes Beispiel: In den Wochen vor den Hohen Feiertagen kehrten ehemalige Schüler aus ganz Litauen an das Beit HaTalmud in Kelm zurück, um einen Mo-
nat in seiner heiligen Nähe zu verbringen. Wer kann sich heute vorstellen, einen ganzen Monat ausschließlich für spirituelle Zwecke freizunehmen? Das Tempo des modernen Lebens bietet diese Möglichkeit nicht.
Rabbi Shimon Schwab gab oft eine Geschichte über den großen Mirer Maschgiach Rabbi Yerucham Levovitz zum Besten, die diesen Punkt veranschaulicht. Als Bachur, der in Mir lernte, beschloss Rabbi Schwab in einem Jahr kurz vor Jom Tow, über die Feiertage nach Hause zu fahren. Das Geld für die Reise lieh er sich von Reb Yerucham. Als er nach Mir zurückkehrte, gab er Reb Yerucham die geliehene Summe zurück und dankte ihm. Reb Yerucham kritisierte ihn hart für diesen Ausdruck von Dankbarkeit, denn dadurch würden gravierende halachische Fragen zu Ribis (Zins) aufgeworfen. Auch im nächsten Jahr fuhr Rabbi Schwab über Jom Tow (Feiertag) nach Hause; und wieder musste er sich das Geld für die Fahrkarte von Reb Yerucham borgen. Dieses Mal aber hütete er sich, seinen Dank auszusprechen, als er Reb Yerucham das Darlehen zurückerstattete. Doch wieder rügte Reb Yerucham ihn schärfstens – diesmal, weil Schwab sich bei ihm nicht bedankt hatte. Rabbi Schwab wandte ein, der Maschgiach habe ihm das Jahr davor erklärt, Danke zu sagen sei verboten. »Ja«, erwiderte Rabbi Yerucham, »aber es sollte dich stören, dass du nicht Danke sagen darfst, und in deinem Gesicht kann ich nicht lesen, dass es dich stört!«
Wir haben die Fähigkeit verloren, über irgendetwas tiefer nachzudenken – das gilt vor allem für uns selbst.
Doch zu keiner Zeit ist es wichtiger, sich in irgendeiner Form einer rigorosen Selbstprüfung zu unterziehen, als während der 40 Tage zwischen Rosch Chodesch Elul und Jom Kippur. Kein Wunder, denn zu keiner Zeit des Jahres ist uns mehr bewusst, wie schwer es uns fällt, genau dies zu tun. Das Schofarblasen vom Beginn des Monats Elul ist dazu da, uns aus der spirituellen Erstarrung zu wecken. Aber allzu oft merken wir bloß, dass das Gebet eine Minute länger dauert.
Ab der ersten Nacht von Slichot können wir nicht länger leugnen, dass der Tag des Gerichts in Windeseile näher kommt. Doch wieder sind wir uns eher der körperlichen Müdigkeit bewusst, die daher kommt, dass wir lange aufbleiben oder früh aufstehen, als dass wir irgendeine besondere spirituelle Erweckung spürten. In der letzten Minute vor Rosch Haschana noch fieberhaft zu lernen, hilft vielleicht ein bisschen. Doch ist das von der primären Vorbereitung der Asseret Jamei Te-
schuwa (zehn Tage der Umkehr) weit entfernt.
Zu oft stehen wir an Rosch Haschana da und fühlen uns kläglich unvorbereitet und wundern uns, wie Elul vorbeigegangen ist. Und wenn die Angst, das Boot zu verpassen, uns nicht zum Handeln treibt, kann es passieren, dass es an Jom Kippur nicht viel besser aussieht. Wenn das Kol Nidre näher rückt, beeilen wir uns, diejenigen, die uns nahe stehen und teuer sind, um Verzeihung zu bitten. Doch fehlt unseren Bitten jene Besonderheit, die ein Zeichen dafür wäre, dass wir ernsthaft darüber nachgedacht haben, wie wir gerade diesem geliebten Menschen, dessen Verzeihung wir suchen, Unrecht getan haben. Auch unsere rituellen Beteuerungen, dass wir aus ganzem Herzen verzeihen, haben nicht viel Wert. An Jom Kippur selbst finden wir uns oft mit dem vagen Gefühl wieder: »Hm, das scheint irgendwas mit mir zu tun zu haben. Ich frage mich bloß, was.«
Ohne echtes Cheschbon Hanefesch (Selbsterforschung, Abrechnung mit sich selbst), irgendeine Form eines regelmäßigen spirituellen Tagebuchs – das sowohl das Positive als auch das Negative enthält –
steht es uns schlecht an, Haschem oder unsere Mitmenschen um Verzeihung zu bitten. Ohne Einsicht in unsere Verfehlungen kann es keine echte Buße geben, die der Ausgangspunkt von Teschuwa ist.
Nicht weniger wichtig ist die Tatsache, dass wir ohne eine fortlaufende Überprüfung unseres Handelns die Muster unserer Verfehlungen nicht einmal ansatzweise aufdecken und herausfinden können, wo-
durch sie ausgelöst werden. Doch bis wir diese Muster verstehen, gibt es keine Möglichkeit, im kommenden Jahr aus ihnen auszubrechen. Die Zeit für Chesbon Hanefesch ist kurz und wird immer kürzer.
Abdruck mit freundlicher Genehmigung von www.jewishmediaressources.com