Es ist Frühling. Aus meteorologischer Sicht schon seit dem 1. März. Astronomisch beginnt der Frühling jedoch erst Ende März mit der Tagundnachtgleiche. Schon das Wort Frühling löst eine ganze Reihe von positiven Gedanken aus. Frühlingsgefühle! Die Natur erwacht aus ihrem Winterschlaf, die Tage werden länger, und die Sonne bringt etwas Wärme, und es hat den Anschein, die Weichen seien in Richtung Neuanfang gestellt. Die steigende Intensität des Lichts löst auch noch im Zeitalter des künstlichen Lichts eine kleine Euphorie aus.
Einer der lyrischsten Texte des Judentums bringt es auf den Punkt. Im Schir Haschirim, dem Lied der Lieder, heißt es dazu: »Denn schau, der Winter ist vergangen, der Regen hat aufgehört und ist vorüber. Blumen zeigen sich am Boden, die Zeit des Singens hat begonnen, der Ruf der Turteltaube ertönt in unserem Lande.«
Ausgerechnet in dieser Zeit endet der jüdische Kalender. Der Monat Adar, in dem auch Purim gefeiert wird, ist der letzte des jüdischen Kalenders. Mit dem Monat Nissan beginnt dann ein neuer Zyklus. Ein Umbruch. Kein dramatischer, aber es beginnt etwas Neues. Verschiedene rabbinische Weisen leiten das Wort Aviv, Frühling, von Av ab. Dies bedeutet Vater, aber im übertragenen Sinne auch Anfang. Auch das ein Hinweis auf den Monat, in dem die Natur zu neuem Leben erwacht.
Es ist leicht, die Feste und Ereignisse des jüdischen Kalenders damit in Verbindung zu bringen. Pessach als Fest des Aufbruchs aus der Knechtschaft wird auch Chag Haaviv, Fest des Frühlings genannt. In der Tora ist im Zusammenhang mit dem Auszug aus Ägypten übrigens vom »Monat der Ährenreife« (Chodesch Haaviv, Frühlingsmonat) die Rede (2. Buch Moses 13,4).
Auf der anderen Seite: Was sollen zum Beispiel südafrikanische Leser dieser Zeitung sagen, die sich diesen Text im Internet anschauen? Dort ist jetzt Herbst. Jahreszeit verkehrt: Auf dieser Seite der Welt wird Rosch Haschana, Jom Kippur und Sukkot im Frühling gefeiert.
Auch in Israel oder Teilen der USA macht sich der Frühling auf andere Weise bemerkbar als bei uns. Das macht klar, dass die Zeit, die wir als Frühling erleben – die Monate Schewat, Adar und Nissan und der Beginn des Sommers mit Ijar und Sivan – auch anders charakterisiert werden können, ohne einen direkten Bezug zu den Ereignissen in der Natur.
Die Klammer, die sich um diese Monate legt, ist die Übergabe der Tora am Sinai. Mit der Parascha Jitro, in der erzählt wird, dass Gott Mosche die Worte verkündet, während sich das Volk versammelt, beginnt diese Zeit. Mit Schawuot, der Szman Matan Tora, der Zeit der Toragebung, dem Fest an dem wir die Offenbarung am Sinai vergegenwärtigen, endet sie. Sie beginnt mit dem Sinai und endet mit ihm.
Sie verbindet die Feste und Gedenktage dieser Zeit mit einer weiteren Bedeutung. Der Sinai steht nämlich nicht nur für den Ort, an dem wir die Tora erhalten haben, sondern vielmehr für den Zustand, in dem sich die Kinder Israels befanden. Die erlebbare Anwesenheit Gottes schuf eine Gemeinschaft, die nicht mehr eine Ansammlung von Individuen war, sondern eine Gemeinschaft, deren Sinne und Gedanken auf ein Ziel gerichtet waren. Dies ist eine Bedeutung des Sinai.
Purim fällt in diese Zeit. Ein wichtiger Aspekt dieses Festes ist jüdische Identität. Pessach fällt in diese Zeit. Das Fest der Freiheit und Wiedergeburt des jüdischen Volkes. Zum Großteil körperlich, ein wenig geistig. Die vollkommene geistige Freiheit erhält Israel erst am Sinai. Diese Gemeinschaft gibt den Festen erst Sinn. Sie alleine, ja in Einsamkeit zu begehen, macht keinen Sinn.
Die Tora ist ein Leitfaden für diese Freiheit, sie regelt mit ihren Gesetzen das Zusammenleben. Die Abfolge der Jahreszeiten dagegen folgt den Naturgesetzen, die allgemein und ausschließlich gültig sind. Diesem Gesetz folgen auch die Bewegungen der Himmelskörper, über die wir die Tagundnachtgleiche beobachten. Im 148. Psalm heißt es: »Er hat sie fest hingestellt, ewiglich, ein Gesetz gab Er, dass man nicht übertreten kann.«
Daran werden wir in diesem Frühjahr erinnert – zur Tagundnachtgleiche. Am 8. April dieses Jahres ist die Sonne nämlich an der Position, in der sie laut jüdischer Überlieferung am Tag der Erschaffung war, dem vierten Schöpfungstag. Dies ist nur alle 28 Jahre der Fall. An diesem Tag sollen Tagundnachtgleiche und der vierte Tag auf den gleichen Zeitpunkt fallen. Wobei betont werden muss, dass der nach dem jüdischen Kalender errechnete Termin um einige Tage später liegt als der astronomische.
Die Tradition sieht für diesen Fall das Sprechen eines Segensspruches vor. Im Traktat Berachot heißt es: »Unsere Rabbinen lehrten, dass eine Person, welche die Sonne an ihrem Wendepunkt, die Planeten in ihren Bahnen oder die Tierkreiszeichen in ihrer Ordnung erblickt, sprechen sollte: Der Du das Schöpfungswerk vollbracht hast.« Ideal wäre es, man spräche diese Bracha in Gemeinschaft. Auch so wird der Frühling zu einer Zeit der Gemeinsamkeit.
Der Autor ist Mitglied der Jüdischen Gemeinde Gelsenkirchen und Begründer des egalitären Minjans Etz Ami im Ruhrgebiet.