von Andrea Schlaier
Der sandsteinfarbene Kubus war noch nicht eröffnet, da funktionierte der Sog bereits. Passanten blieben mit dem Kopf im Nacken stehen, den Blick auf die gläserne Fassade geheftet, die das Erdgeschoss des Blocks umfängt. Dort kleben Gesprächsfetzen von wundersamer Zufälligkeit. Wie die Erzählung einer Schülerin, die sich erinnert, wie ihre Lehrerin im Unterricht wissen wollte, wofür Nürnberg berühmt sei. ›Die Prozesse‹, sagte einer, ›Reichsparteitage‹ ein anderer. Was die Pädagogin hören wollte, hatte keiner vorgetragen: Lebkuchen. Die israelische Künstlerin Sharone Lifschitz hat in ganz Deutschland mit ihr Unbekannten Dialoge wie diesen geführt. Speaking Germany taufte sie ihr Projekt und gewann damit den Kunst-am-Bau-Wettbewerb für das neue Jüdische Museum München. Den Geist des Hauses, das am heutigen Donnerstag im Herzen der bayerischen Metropole eröffnet wird, könnte nichts besser fassen.
Ein offener Ort des Austausches mit den Besuchern soll hier entstehen, ein Laboratorium, das Fragen der Gegenwart und Zukunft aus dem Wissen um die Vergangenheit heraus thematisiert, interpretiert und zur Diskussion stellt. So wünscht es sich Bernhard Purin, den die Stadt für ihr Vorzeigeprojekt als Gründungsdirektor engagiert hat. Der Österreicher bespielt das Haus unbefangen, das umarmt von Synagoge und jüdischem Gemeindezentrum nun den städtebaulichen Dreiklang der Architekten Wandel Hoefer Lorch komplettiert. »Es gibt kaum einen Ort in Deutschland«, sagt Purin, »wo mehr jüdische Gegenwart spürbar ist als hier am Jakobsplatz.«
Ein wichtiger Aspekt in der Vielfältigkeit jüdischen Lebens, sagt der Kulturwissenschaftler, sei die Religion. »Aber eben nicht ausschließlich; es gibt viele Möglichkeiten jüdische Identität zu haben.« Purin nimmt beim Gang durch den Kubus als Erster die Schwelle zur Daueraustellung im Untergeschoss. Wer den Parcours aus sieben Themen jüdischen Lebens in München beschreitet, landet in einer Gangway. Aus Lautsprechern dringen Stimmen: Zitate von Menschen, die eben in München angekommen sind, schwäbische und fränkische Landjuden des 18. Jahrhunderts bis hin zu den Zuwanderern der GUS-Staaten.
Am Ende des Tunnels öffnet sich der Raum zum Spiel. Die Berliner Künstler Renata Stih und Frieder Schnock haben einen Stadtplan-Teppich entworfen, auf dem 18 jüdische Plätze verzeichnet sind. Entsprechend gibt es 18 Ständer mit Beschreibungen der Orte. Positioniert man diese richtig, leuchtet auf einem Wand-mosaik aus Fotos das richtige auf und offenbart etwa die »schöne Jüdin« Nanette Kaula aus der Schönheitsgalerie im Schloss Nymphenburg oder die Witwe des ermordeten israelischen Fecht-Trainers André Spitzer im Olympischen Dorf.
Das »viele Silber«, das jedermann in einem jüdischen Museum erwarte, kommt bei Purin nur als leises Schattenspiel hinter weißem Papier vor. In einer Nische verbirgt sich allerdings auch noch der obligatorische Judaika-Crash-Kurs mit Torarolle, Purimrätsche und Sederteller.
Eine Biegung weiter präsentiert das Museums-Team seine Lieblingsobjekte aus dem Depot. Das reicht vom Alijah-Würfelspiel bis zum intimsten Stück im Haus: dem Tapetenschrank des ehemaligen Präsidenten der Israelitischen Kultusgemeinden Bayerns, Simon Snopkowski. In die prall gefüllten Regalreihen hat der KZ-Überlebende alles gestopft, was ihn belastet hatte. Der »Gelbe Stern« liegt weit oben.
Auch in der letzten Station des Rundgangs spielt ein Holocaust-Überlebender die Hauptrolle. Der amerikanische Zeichner Jordan B. Gorfinkel hat in einem Comic die Geschichte seines Großvaters erzählt, der vor der Schoa in der bayerischen Landeshauptstadt lebte und jetzt von dessen Oberbürgermeister eingeladen wird (vgl. Seiten 13 und 14). »Wir wollten einen Abschluss, der in die Gegenwart zeigt«, sagt Purin.
Das Verhältnis Dauer- zu Wechselausstellung liegt bei ein zu zwei Dritteln, »weil dadurch das Museum attraktiver bleibt. In die Dauerausstellung kommen die Leute nur einmal.« Dabei sei »nicht entscheidend, wie viele kommen, sondern wie lange sie bleiben«. Deshalb sind an die temporären Schauen Vertiefungsräume mit PC-Arbeitsplätzen oder Bibliothek angegliedert. In das Konzept passt auch Rachel Salamanders Dependance ihrer »Literaturhandlung« im Foyer.
Von dort führt gleich einer steinernen Himmelsleiter der Weg nach oben zu den beiden Wechselausstellungen. Sie widmen sich im ersten Jahr dem Sammeln. Die jüdische Welt und die Wittelsbacher berühren sich vor königlich roter Wand in wenigen Schaukästen. Herausragende hebräische Handschriften der ehemaligen Hofbibliothek sind zu sehen. Hier findet sich auch die erste Judaika-Sammlung eines deutschen Museums, nämlich die des Bayerischen Nationalmuseums von 1881.
Ein paar Stufen weiter nach oben sinkt die Zahl der Objekte nochmals rapide. Nichts als Kultur - Die Pringsheims zeigt als zentrales Element das Pappe-Palais Alfred Pringsheims. Der Mathematiker war einer der bedeutendsten privaten Kunstsammler und Gesellschafter der Stadt. Zwei hochkarätige Bilder vermögen es, den Saal zu erfüllen: das große Wandfries von Hans Thoma, das Pringsheim 1933 abgehängt hat, und das Kaulbach-Bild, das seine Kinder als Harlekine zeigt.
Zählt man das Gesehene zusammen, kommt man bei 900 Quadratmetern auf 150 Objekte. Purin lacht. »In Berlin hatten sie bei der Eröffnung des Jüdischen Museums 4.000 Stücke.« Um mit Besuchern ins Gespräch zu kommen braucht es keine Materialschlacht. Wir müssen an die Zeitungsannoncen von Sharone Lifschitz denken, die sie geschaltet hatte, um in Kontakt zu kommen: »Junge jüdische Frau, die Deutschland besucht, würde gern ein Gespräch über nichts Besonderes führen mit jemandem, der dies liest.«