Markus Wolf

Wolfs Welt

von Michael Wolffsohn

»Über Tote soll man nur gut reden.« So übersetzen die meisten die altrömische Weisheit »de mortuis nil nisi bene«. Diese Übersetzung ist falsch. »Bene« ist kein Adjektiv, sondern Adverb. Also heißt es nicht »gut«, sondern auf gute, angemessene Art und Weise. Auch über den toten Markus Wolf kann man nicht sagen, daß er in seinem politisch-geheimdienstlichen Leben Gutes ge- und bewirkt, gar einer guten Sache, einem guten Staat gedient hätte. Die DDR und ihr »Großer Bruder« Sowjetunion plus Ostblock haben nicht nur, aber auch Juden als Juden geschadet und gemordet.
Weshalb hat Markus Wolf, ein hochintelligenter Mann jüdischer Herkunft, einem solchen System an herausragender (wenngleich nicht sichtbarer) Stelle gedient und geholfen? Daß und wie sehr die DDR alles andere als juden- und israelfreundlich war, habe ich 1995 in meinem Buch Die Deutschland-Akte dokumentiert. Selbst vor der Inszenierung antisemitischer Aktionen in der alten Bundesrepu- blik scheute die DDR mit Stasi-Hilfe nicht zurück. Als die Deutschland-Akte erschien, galt diese Feststellung noch als ketzerisch. Inzwischen bestreitet niemand mehr (nicht einmal die PDS) ernsthaft das antijüdische und antiisraelische DDR-Grundmuster. Der aggressive Rechtsextremismus in den neuen Bundesländern ist eine der Spätfolgen.
Intelligenz und gute Ausbildung schützen nicht, nie, niemanden, nirgends vor moralischen Irrwegen. Warum sollte Markus Wolf immun gewesen sein? Der Lebens- und Irrweg von Markus Wolf scheint mir – in überspitzter Konsequenz – kennzeichnend für eine jüdische Fehlwahrnehmung der politischen Linken und daraus folgend auch der demokratischen Rechten in Deutschland und Europa. Etwas abgeschwächt formuliert: Diese Fehlwahrnehmung der Linken betrifft auch viele echte Antifaschisten.
Nicht Jüdisches, doch menschlich Idealistisches bestimmte Weltsicht und Lebenshaltung seines Vaters, des Arztes und Schriftstellers Friedrich Wolf. Stuttgarter Zeitzeugen erzählten immer wieder, daß und wie sehr sich Friedrich Wolf für die Armen und Entrechteten einsetzte. Er behandelte nicht wenige von ihnen kostenlos und vermachte allen, die er nicht selbst verarzten konnte, mit seiner 1928 erschienenen medizinischen »Hausbibel« (Die Natur als Arzt und Mensch) einen medizinisch noch heute fortschrittlichen Wegweiser.
In der »Epoche des Faschismus«, die von Italien aus Westeuropa seit 1922 zunehmend bedrohte, ist es nicht überraschend, daß ein solcher Idealist glaubte, sein Platz sei bei den Kommunisten. Seit dem Aufstieg des deutschen Nationalsozialismus, der von Anfang an militant antisemitisch war, leuchtete diese Positionierung zusätzlich ein. Wie viele Intellektu- elle erkannte Friedrich Wolf die Entsetzlichkeiten des Nationalsozialismus und der Faschismen. Das Feindbild war richtig und realistisch. Nach rechts sah er alles, links war er blind. Vielleicht, weil er rechts alles so scharf sah? Aber er sah zu Recht, daß die bürgerlichen Parteien in ihrem Widerstand gegen den aufsteigenden Nationalsozialismus entweder willenlos oder schwach oder gar willige Helfer und die Sozialdemokraten ohnmächtig waren. Wie viele Intellektuelle übersah er die Verbrechen des Stalinismus. Wollte er sie übersehen? Er mußte sie übersehen, um wie die westliche Welt ab 1941 mit Stalin gegen Hitler entschlossen zu kämpfen.
In diesem Milieu wuchsen Markus Wolf und seine Brüder auf. Die Wolfsche Weltsicht wurde durch die Tatsache bestätigt, daß es die Rote Armee war, die Auschwitz und die anderen nationalsozialistischen, rechtsextremistischen Höllen auf Erden befreite. Auch Nichtkommunisten, Juden allemal, wußten und wissen dies zu würdigen. Als anständige Menschen vergessen sie, vergessen wir Juden es nicht. Doch zwischen »nicht vergessen« und verklären muß man unterscheiden. Das fällt schwer. Markus Wolf und die Seinen konnten es nicht und blieben dem Todfeind des Nationalsozialismus treu. So treu, daß sie nicht nur kommunistische Antisemitismen und Judenverfolgungen, sondern auch das DDR-Reinwaschen alter Nazis ignorierten.
In seinem geschichtspolitischen Ansatz ist Markus Wolf unser »Bruder« –nicht aber in dessen Ausführung. So weit wie er gingen nur wenige jüdische und nichtjüdische Antifaschisten, doch viele setzten wie er, als Reaktion, ja Reflex auf die Ur-Verbrechen der Rechtsextremisten, diese mit der demokratischen Rechten gleich. Das ist gefühlsbestimmt verständlich, aber falsch. Das dokumentiert auch der Lebensweg von Markus Wolf.
Am 9. November (!) ist der langjährige Spionagechef der DDR im Alter von 83 in Berlin gestorben.

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