von Rabbiner Andreas Nachama
Es ist keine 70 Jahre her, da waren Juden, Sinti und Roma sowie Homosexuelle gemeinsam am Anus Mundi in Auschwitz, Treblinka oder wie sonst die Unorte hießen, an denen sich der Zivilisationsbruch vollzog. Dort wurden Menschen deshalb ermordet, weil das Fundamentalgesetz der Bibel missachtet wurde, wonach alle Menschen ein Abbild Gottes sind.
Faschismus und Rassismus sind inakzeptable Reaktionen auf die Französische Revolution, nach der alle Menschen vor dem Gesetz gleich sind. Im Anschluss da-ran haben sich auch intern für das Judentum große Veränderungen ergeben. Schon im 19. Jahrhundert begann die Integration der Frauen in den jüdischen Gottesdienst, die mit der Gleichstellung durch Ordination von weiblichen Rabbinern und Kantoren seinen Abschluss gefunden hat.
Blieb eine Gruppe, die auch nach der Befreiung mit einem Stigma behaftet ist: die Homosexuellen. Solange die sexuelle Orientierung von Männern und Frauen als eine persönliche Entscheidung eines Einzelnen angesehen wurde, konnte mit der Tora argumentiert werden, wonach der Mann nicht mit einem Mann liegen solle wie mit einer Frau. Der englische Oberrabbiner Jonathan Sacks räumt in seinem Vorwort für das 2004 erschienene Werk »Judaism and Homosexuality: An Authentic Orthodox View« ein, dass Homosexualität angeboren ist. Sie entzieht sich also der freien Willensentscheidung eines Menschen. Deshalb plädiert Rabbiner Sacks dafür, Homosexuelle in jüdische Gemeinden zu integrieren. Im April dieses Jahres hat nach langer kontroverser Debatte das Jewish Theological Seminary, das Rabbinerseminar der konservativen Masorti-Bewegung, beschlossen, auch Schwule und Lesben zu Rabbinern zu ordinieren.
Meist sind es Rabbinerkonferenzen, die halachische Entscheidungen revidieren und sich dabei allein auf ihren Sachverstand berufen. Alle kennen die rabbinische Kontroverse aus dem Talmud, in deren Verlauf die eine Seite göttliche Wunder bewirkt, die andere Seite schließlich sogar der zustimmenden göttlichen Stimme entgegnet, sie möge in dieser Sache verstummen, denn die Tora sei am Sinai in unsere Hände gegeben worden. 1983 wurde die Halacha verändert: Ganz selbstverständlich werden nun Taubstumme zum Minjan dazugerechnet. Die Entscheidung in der biblischen und talmudischen Zeit basierte darauf, dass dieser Personenkreis womöglich tatsächlich nicht am Leben teilnehmen konnte. Dank der Gebärdensprache und eines hohen Maßes an Bildung sind Taubstumme heute jedoch vollwertige Gemeindemitglieder.
Schon vor zehn Jahren hat die Reformbewegung mit ihrem Werk »Kulanu« diesen Weg auch für Homosexuelle beschritten und jetzt einen überarbeiteten Weg-
weiser herausgegeben. Rabbiner Eric Yoffie, Präsident der Union progressiver Ju-
den in den USA, fasst zusammen: »Schwule und lesbische Kinder sind Kinder von Gott geschaffen gerade so wie Heterosexuelle.« Dieses Leitmotiv des 500-Seiten starken Werks, verfasst von Rabbinern, Gemeindeaktivisten und Betroffenen, umreißt die gesamte Lebenswelt nichtheterosexueller Juden, von Formen traditioneller jüdischer Hochzeiten für Lesben bis hin zu Brachot, die anlässlich einer Geschlechts-
umwandlung zu sprechen seien. Es steht damit in der Tradition der Wegweiser jüdischen Seins, Halacha, die zu allen Zeiten Band und zugleich Trennung zwischen Juden war. Das klingt im ersten Augenblick verwegen, weil Halacha oftmals gleichgesetzt wird mit altfrommer Pflege des Judentums. Nicht, dass es diese Wegweiser gibt, sondern allein wie diese ausgelegt werden, unterscheidet altfrommes Judentum von Chabad Lubawitsch genauso wie von Masorti oder den Progressiven.
Judentum im 21. Jahrhundert positioniert sich gänzlich neu. So wie sich nach der Zerstörung des Tempels ein neues rabbinisches Judentum entwickelte, um den Tempelkult in abstrakte Formen des Wortgottesdienstes zu überführen, so wie Rabbi Gerschom mit einer Takana die Monogamie einführte, so sind die Folgen der Französischen Revolution für die Gleichstellung aller – nicht nur in der Gesellschaft, sondern auch in der Synagoge – eine logische Folge für progressives Judentum. Den Vorbehalten vieler, für die mit diesen neuen Positionen vertraute Lebensgewohnheiten in Frage gestellt werden, sei jenseits aller Argumente eine Herzensposition entgegengehalten: Wir haben in der Schoa schon genügend Menschen verloren, wir sollen nicht Menschen verprellen, sondern nach Möglichkeiten suchen, alle einzuschließen, die jenes Fünkchen Jüdischkeit in sich tragen, das uns vom Sinai bis heute den Weg erleuchtet hat.
Der Autor ist Rabbiner der Berliner Synagogengemeinde Sukkat Schalom.