Als Nicolai aus dem Haus tritt, trägt er seinen Sonntagsanzug. Dazu ordentlich nach hinten gekämmte Haare und frisch rasierte Wangen – so recht will das nicht zu seinen breiten Schultern und den groben Händen passen. »Ich Administrator!«, ruft er mit seiner tiefen Stimme und rollendem »r« quer über den Marktplatz und winkt, wie zum Beweis, mit einem großen Schlüsselbund in der rechten Hand.
Seit vielen Jahren hütet Nicolai die Synagoge von Bobowa, einem verträumten Ort im polnischen Nirgendwo, zwei Stunden von Krakau entfernt. Über 800 Juden lebten hier vor der Schoa, und vieles erinnert an das Schtetl, das Bobowa einst war: Die alten schiefen Holzhäuser, der weitläufige Marktplatz, an dem sich Händler und Bauern zum Viehhandel versammelten, und natürlich die Synagoge.
Die ersten Juden ließen sich zu Beginn des 18. Jahrhunderts in Bobowa nieder. Aus dieser Zeit stammt auch die Synagoge, die nach den Verwüstungen der Nazis wiederaufgebaut wurde und mit ihrer Holzverkleidung und dem gekrümmten Spitzdach auf den ersten Blick eher an einen buddhistischen Tempel erinnert.
Ob heute noch Juden in Bobowa leben? Nicolai schüttelt den Kopf: »Holocaust«, sagt er und zieht die flache Hand am Hals entlang. Vor dem Krieg war die Stadt ein Zentrum der chassidischen Juden und die Heimat von Rabbi Ben Zion Halberstam (1847–1905), dem berühmten Bobower Rebben. Während der Schoa wurden Tausende Chassidim, die wegen ihrer dunklen Mäntel und der mit Pelz bezogenen Hüte sehr schnell als Juden zu erkennen waren, von den Nazis ermordet. Schlomo Halberstam, ein Sohn des legendären Rebben, überlebte als einer der wenigen die Schoa und wanderte nach dem Krieg in die USA aus. Dort entwickelte sich der Bobower Chassidismus zu einer der stärksten chassidischen Strömungen weltweit, mit Synagogen in New York, London, Montreal, Antwerpen und Jerusalem. Die Nachfahren des legendären Rebben waren es auch, die die Renovierung der Synagoge in Bobowa bezahlt haben.
Nicolai, der Schlüsselwächter, schließt die gewaltige Tür auf. Seit 2003 finden in der alten Synagoge von Bobowa wieder gelegentlich Gottesdienste statt, vor allem für pilgernde Chassidim, die aus der ganzen Welt kommen, um am Grab des Rebben auf dem nahe gelegenen Friedhof zu beten. Stolz zieht Nicolai einen Stapel Visitenkarten aus seiner Hosentasche: Rabbiner aus der ganzen Welt waren inzwischen hier, Privatleute und der israelische Botschafter in Warschau.
Der quadratische Gebetsraum ist, abgesehen von den Holzbänken, komplett in Weiß gehalten. Um so mehr sticht der mit leuchtend bunten Tier- und Pflanzenmotiven verzierte Toraschrein, einer der wertvollsten in Polen, ins Auge. Überbleibsel von 200 Jahre alten Wandbemalungen verzieren die Ostseite der Synagoge. Nicolai steht in der Mitte des Gebetsraums und strahlt. Dieser Ort ist sein ganzer Stolz.
Irgendwoher hat er ein Buch mit alten Fotos hervorgezaubert. Es zeigt die Hochzeit von Nehama Golda Halberstam, einer der Töchter des Rebben, im Jahr 1931. »Viele Leute! Große Feier!«, sagt Nicolai und tanzt lachend auf der Stelle, als wäre er ein Teil der Hochzeitsgesellschaft.
Vor dem Verlassen der Synagoge schaut er in jede Ecke. Dreimal dreht er den Schlüssel im Schloss, dann drückt er mit beiden Händen gegen die Tür, um sicherzugehen, dass sich niemand unerlaubt Zutritt verschaffen kann. »Sie wiederkommen«, sagt er zum Abschied, »ist schön, wenn Juden uns besuchen.« Maximilian Kiewel
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