von Micha Guttmann
Zumindest bei Gedenkfeiern und Preisverleihungen werden sie regelmäßig zitiert: die jüdischen Wurzeln unserer Gesellschaft, gerne und feierlich zumeist in der Kombination mit den christlichen. Auch die SPD hat sie erkannt und den Bezug auf jüdische Werte in ihr neues Parteiprogramm aufgenommen. Wer die gesellschaftspolitischen und sozialpolitischen Entwicklungen des 19. und des 20. Jahrhunderts kennt, den wird das nicht überraschen. Selbstverständlich waren viele Politiker, Journalisten, Künstler und Wissen- schaftler jüdischer Herkunft von ihren religiösen Glaubensüberzeugungen geprägt, die sie in die öffentlichen Diskussionen damals erfolgreich eingebracht haben. Viele stammten übrigens aus alteingesessenen Rabbinerfamilien. Doch das ist Geschichte.
Der Streit um die aktuellen Probleme unserer Gesellschaft wird in der Öffentlichkeit heute heftig, aber gänzlich ohne Diskussion jüdischer Lösungsansätze ausgetragen. In seriösen Talkshows, den Seismo- grafen der Themen, die Menschen bewegen, sitzen oft Theologen beider großen Kirchen, hier und da auch ein Imam, aber einen Rabbiner sucht man vergeblich. Dabei hat es in Deutschland nach 1945 nie so viele Rabbiner gegeben wie heute – und damit noch nie so viel religiöse Meinungsvielfalt innerhalb der jüdischen Gemeinschaft.
Gesellschaftsprobleme wie Kinderarmut, Sterbehilfe, Mindestlohn und AIDS lassen sich ohne Wertmaßstäbe nicht lösen. Sozial engagierte Organisationen und die Kirchen mischen sich zu Recht ein und vertreten mit großem Einsatz ihre Überzeugungen in der Öffentlichkeit. In unserer Mediengesellschaft bedeutet dies: regelmäßige Präsenz in Radio, Fernsehen und Zeitungen. An keiner TV-Diskussionsrunde nahm allerdings bisher ein Rabbiner teil. Denkansätze und Erkenntnisse aus jüdischen Quellen spielen heute überhaupt keine Rolle bei der öffentlichen Debatte um Problemlösungen. Sie bleiben unbekannt, obwohl das Judentum diskussionswerte Ideen anbieten kann. Verfolgt man den Streit um die Stammzellforschung in den USA oder in Israel, wird dies deutlich. Mit welchem Engagement stellen dort Rabbiner ihre Überzeugungen und Lösungsvorschläge zur Diskussion, die sich aus jüdischen Interpretationen der Bibel und rab- binischen Überlieferungen ergeben! Wenn also der Bezug auf jüdische Wurzeln der deutschen Gesellschaft ernst gemeint ist, dann müssen sich auch in Deutschland Rabbiner am öffentlichen Streit um relevante Gesellschaftsprobleme beteiligen.
Die Türen der Medien stehen weit offen. Redaktionen nehmen oft Kontakt zu den Rabbinaten in den Gemeinden auf. Das Interesse an jüdischer Religion, Kultur und Tradition in Deutschland ist groß. Redakteure laden zu Interviews und ins Fernsehen ein. Doch fast immer verweigern sich die Rabbiner, klagen die Journalisten. Das ist schade. Denn es gibt keine vernünftige Begründung für diese Haltung. Die wichtigen Gesellschaftsprobleme machen vor den Toren der jüdischen Gemeinden nicht halt. Sie gehen uns alle an. Die jüdische Gemeinschaft kann und muss sich mit ihnen auseinandersetzen, denn es sind auch ihre Probleme. Um so wichtiger ist es deshalb, in der Medienöffentlichkeit präsent zu sein und eigene Gedanken beizutragen.
Deutschlands Rabbiner müssen sich dieser Herausforderung stellen. Sie sollten ihr Engagement in der Öffentlichkeit nicht als Last empfinden. Im Gegenteil, wie ein Blick zurück zeigt. Große Lust am öffentlichen Ringen um intellektuelle und moralische Positionen des Judentums wird in den überlieferten rabbinischen Schriften der vergangenen Jahrhunderte deutlich. Diese Streitkultur früherer Zeiten ist den Rabbinern nicht verloren gegangen. Die Protokolle der internen Sitzungen der Rabbinerorganisationen bezeugen dies.
Daher an unsere Rabbiner die Bitte: Mehr Mut und Selbstbewusstsein sind gefragt. Der Auftritt in der Öffentlichkeit und die Darstellung jüdischer Werte bei der Diskussion wichtiger Gesellschaftsprobleme bereichern die Meinungsvielfalt. Rabbiner repräsentieren die jüdischen Gemeinden in ihren religiösen und moralischen Überzeugungen. Die jüdische Gemeinschaft ist stolz darauf, wenn sie dies verstärkt auch in der Medienöffentlichkeit tun. Jüdische Werte braucht man nicht zu verstecken.
Der Autor ist Rechtsanwalt und Journalist und war von 1986 bis 1992 Direktoriumsmitglied und Generalsekretär des Zentralrats der Juden in Deutschland.