Was ist ein Aphorismus? »Eine pointierte und schlagkräftig formulierte geistreiche Äußerung in Prosa«, meint das Handbuch literarischer Fachbegriffe trocken und etwas nichtssagend. Was also ist er, dieser literarische Blitz aus unheiterem Himmel? Viel mehr, wie mir scheint. Er ist mit der sogenannten Spruchweisheit verschwägert und mit dem Witz verwandt, zumal mit dem jüdischen. Nicht zufällig waren viele Aphoris-tiker jüdische Autoren, Karl Kraus etwa, Alfred Polgar, Felix Pollak, Kurt Tucholsky, Stanislaw Jercy Lec, und nicht zuletzt der vor einigen Jahren verstorbene Gabriel Laub. Ironischerweise könnte man sagen, wer Aphoristiker werden will (übrigens keine glänzende Karriere), benötige eine jüdische Herkunft und die damit verbundenen »historischen« und persönlichen Erfahrungen. Solche Abstammung schärft den Blick für die Gebrechen der Welt, an denen zu kranken man selbst gezwungen ist.
Die Nähe zwischen Spruchweisheit und Aphorismus belegen aus dem Jiddischen überlieferte Einsichten wie »Je länger ein Blinder lebt, desto mehr sieht er.« Das verblüffende Moment ist ein Merkmal des Aphorismus, der scheinbar Unvereinbares kombiniert und dadurch eine Wahrheit ans Tageslicht befördert, die sowohl amüsiert wie bedenklich stimmt.
Werden überhaupt noch Aphorismen gelesen? Handelt es sich nicht um eine aussterbende literarische Gattung? Zumindest ist die große Zeit des Aphorismus vorbei, als ein gelungenes Bonmot öffentlichen Beifall fand. Und bedeutende Autoren, von Goethe bis Nietzsche und Wilde, sich dieser einprägsamen Form bedienten. Wo gibt es in Deutschland noch Aphoristiker?
Einer sitzt in Berlin: Sigmar Schollak, der die unglückliche, doch intellektschärfende Erfahrung mit dem Dritten Reich (als »Halbjude«) und der DDR als satirischer Störenfried hatte. Nun ist er achtzig geworden und kein bisschen dümmer. Aber leider wird, wie wir sehen, die Menschheit nicht klüger, selbst wenn sie alle Schollakschen Aphorismen läse, weil der Aphoristiker, man weiß es, tauben Ohren predigt: er ist ja ein verkappter Moralist, der dem vernagelten Homo sapiens auf die Sprünge helfen will, trotz aller Enttäuschung, die ihm, dem Autor, dieses obskure Geschöpf bereitet hat. Von den Brechtschen »dunklen Zeiten« eines Schlechteren belehrt, schreibt er wider alle Vernunft immer weiter, ohne Aussicht auf Besserung des Menschengeschlechts. Ist das unvernünftig? Immerhin bleibt von seinen Arbeiten stets aufs Neue Zitierenswertes für unsere Diskurse, Diskussionen und Auseinandersetzungen übrig. So das schöne Diktum: »Wissen ist Macht – Unwissen mächtig!« Gratulation, bester Freund, bis zum Hundertsten!
glückwunsch