von Klaus Bittermann
Als ich Bob Dylan kennenlernte, war er bereits eine Legende. Ich wußte es nur nicht. In den entscheidenden Jahren 1968/69 hing ich in einer Kleinstadt mit ein paar Freunden herum. Und die waren auch schon das einzige, was diese Kleinstadt zu bieten hatte, in der es sonst nur eine Disko gab, in der Thomas Gottschalk Schlager und Tanz-Mucke auflegte, während wir den wirklich guten Stoff hörten.
Daß diese Jahre einmal in die Geschichtsbücher eingehen sollten, wußte niemand von uns. Es kümmerte uns nicht. Wir waren noch keine 16, leerten trickreich Zigarettenautomaten, kauften ein paar Kästen Bier und verzogen uns in eine sturmfreie Bude, um sie zu verwüsten. Aus einem Sanyo krächzte und jammerte Bob Dylan. Everybody must get stoned war die Devise. Uns war klar, daß da niemand gesteinigt werden sollte. Und wenn Dylan schmalzte Honey, I want you, dann schmolzen wir dahin und träumten von der scharfen Frau, die uns bei diesem Geständnis zu Füßen liegen würde. Wir kannten alle LPs von Dylan, aber von den Texten verstanden wir nur Bruchstücke. Dylans Lyrik war uns zu schwyrik. Uns reichten ein paar Fetzen, um uns den großen Gefühlen der Sehnsucht und des Fernwehs hingeben zu können, die niemand besser als Dylans Stimme und seine Mundharmonika hervorzurufen wußten. Dann wäre man selber gerne ein Hobo gewesen, der sich mit seiner Gitarre in die weite Welt aufmacht, um der bedrückenden Enge der Kleinstadt zu entfliehen.
Aber Dylan hat nicht bloß Musik für Heranwachsende gemacht, die keinen blassen Schimmer vom Leben hatten und nur nach einem Idol Ausschau hielten, wie das gerade beim Magdeburger Quartett Tokio Hotel der Fall ist, wo ein bescheuerter Refrain für einen ganzen Song herhalten muß und ausreicht, um Schülerinnen massenweise in Ekstase zu versetzen. Nein, Dylan hatte keine androgyne Ausstrahlung, er sah aus wie ein spackeliger Jüngling, der ein paar Steaks auf den Rippen hätte vertragen können. Dylan hatte dafür ‹ne Menge zu erzählen. Niemand wußte besser als wir: The times they are a-changin’. Und wir waren überzeugt davon, für die Masters of War ist das Ende gekommen und der Vietnam-Krieg war ein Dreckskrieg.
Wir waren vielleicht unerfahren und auch ein bißchen dumm, aber wir hatten das Glück, auf eine musikalische Goldader gestoßen zu sein. Über Dylan mußte man nicht nach einem Jahr den Mantel des peinlichen Schweigens legen, wie beispielsweise bei den Monkees oder anderen Eintagsfliegen des Popgeschäfts. Wir machten musikalisch eine Menge mit, und es gab ja auch eine Menge zu entdecken, aber Dylan landete über die Jahre immer wieder auf dem Plattenteller. Selbst heute noch, fast vierzig Jahre später, ist Dylan mit dabei, wenn ich meine Lieblingssongs zusammenstelle. Zugegeben, nicht unbedingt der Folksinger Dylan der frühen Phase, als er mit der Heulboje Joan Baez zusammen auftrat, sondern der Dylan, der kurz hintereinander mit Highway 61 Revisited und Blonde on Blonde zwei der größten Alben der Popgeschichte herausgebracht hat.
Damals wußte ich nicht, daß diese beiden Alben genau in einer Umbruchsphase entstanden sind, die sein Bemühen dokumentierten, aus der Folk-Ecke herauszukommen. Vielleicht ergab es sich auch einfach, so wie viele historische Momente sich auf unberechenbare Weise verdichten und wie ein Gewitter zur Entladung kommen, ohne daß man wirklich begreifen könnte, was geschehen ist.
Am 15. Juni 1965 spielt der Legende nach Bob Dylan ein paar Töne auf dem Klavier, aber als er zu singen anfängt, versagt seine Stimme. Am nächsten Tag entsteht zusammen mit den Musikern Al Kooper und Mike Bloomfield eine Single. Like a rolling stone dauert sechs Minuten und sechs Sekunden, für jeden Radiosender genau drei Minuten zu lang, weshalb man den Song einfach nach der Hälfte der Zeit ausblendet. Erst als die Hörer zu protestieren beginnen, wird der Song vollständig gespielt und stürmt nach vier Wochen die Charts. Greil Marcus hat über diesen Song und seine Entstehungsgeschichte ein ganzes Buch geschrieben, um herauszufinden, was es mit ihm auf sich hatte und warum eine ganze Generation von ihm fasziniert war. Der Text über einen gefallenen Engel ist sehr geheimnisvoll. Wenn man ihn wörtlich nimmt, bleiben eine Menge Ungereimtheiten. Der Zauber von Dylans Lyrik bestand bei Like a rolling stone darin, daß sich jeder seinen eigenen Reim darauf machen konnte. Auch die Musik hatte etwas Geheimnisvolles, denn sein »Rückgrat« war äußerst schwer zu finden, und live hörte es sich jedesmal anders an.
Kurze Zeit später, am 24. Juli, traf sich Dylan mit Kooper und Bloomfield in Newport, wo das bekannte Folk-Festival stattfand. Pete Seeger, »die Galionsfigur des Folk Revivals«, spielte dem Publikum über Band die Stimme eines Neugeborenen vor, und bat die Besucher, dem Baby etwas vorzusingen, um ihm klar zu machen, in welche schlechte Welt es hineingeboren worden sei. Am Ende betritt Dylan die Bühne. Über diesen Auftritt gibt es viele unterschiedliche Darstellungen, aber als Dylan mit einem »Let’s go« die elektrisch verstärkten Gitarrensaiten schrubbt und Maggie’s Farm in Rock’n’Roll umkippen läßt, stellt er, wie Greil Marcus schrieb, »alles in den Schatten, was man in jener Zeit in den USA zu hören gewohnt war«. Pete Seeger soll hinter der Bühne sogar versucht haben, mit einem Beil die Stromkabel zu kappen. Die sonst andächtige lauschende Menge buhte, pfiff und johlte. Aber ob aufgrund der schlechten Soundqualität oder aus Empörung über die Elektrifizierung des Folks, läßt sich nicht mehr eindeutig sagen. Jedenfalls wurde Dylan von nun an lange Zeit auf seinen Konzerten als Verräter beschimpft. Innerhalb eines Jahres hatte Dylans Auftritt sämtliche Regeln des Folks außer Kraft gesetzt. Seine Musik hatte die puritanischen Grenzen des Folks gesprengt und schwappte in eine Gesellschaft hinein, die mit sich selbst uneins war.
»Hast du einmal richtig gute Musik gehört«, schrieb Hunter S. Thompson, »kannst du sie in deinem Gehirn speichern und für immer und überall abspielen.« Einer der Lieblingssongs von Thompson war Mr. Tambourine Man. Der Song erinnerte ihn an eine elektrisierende Nacht mit den Hell’s Angels, als aus riesigen Boxen Dylans Song strömte, das war eine ganz andere Szenerie als die harmonische Folkgemeinde in Newport. Und wenn ich Desolation Row höre oder Sad eyed Lady of the Lowlands, dann kehrt die Erinnerung an die betrunkenen Nächte zurück in einer sturmfreien Bude. Das war um Lichtjahre besser als sich in einer Disko Top-Ten-Gassenhauer anzuhören, die der von uns allen mitleidig belächelte Schulkamerad Thomas Gottschalk auflegte.