von Veronika Wengert
Ein hellbraunes Fliesenband an der Fassade leitet den Besucher zu den Klingelknöpfen in der Hofeinfahrt. Hier wohnt die Welt im Kleinen. Das könnte man zumindest annehmen, wenn man die Schilder neben der Milchglastür liest: vietnamesische, polnische, russische und türkische Namen. Inmitten dieses kulturellen Mikrokosmos mitten in der südwestdeutschen Kleinstadt Pforzheim ist auch Abram Bensman zu Hause. Vor sechseinhalb Jahren kam der Rentner aus Minsk und hat in Schwaben noch einmal neu angefangen. Als er Weißrußland verließ, war er bereits 71 Jahre alt. Bensman lehnt sich in der braunen Couch in seinem Wohnzimmer zurück und beginnt laut zu rechnen. »Im Schnitt gebe ich alle 25 Jahre ein Interview für eine Zeitung«, sagt er. Mal als Student, mal als Konstrukteur im Industriekombinat, wo er 45 Jahre lang arbeitete – und nun als Rentner. Bensman scheint Gefallen zu finden an Zahlenspielen. »Meine Frau ist erst 18 Jahre alt«, sagt er und zwinkert. Rosa Zaharina, eine kleine rundliche Frau mit gefärbten Haaren, wirkt kaum jünger als er. Die beiden lachen herzlich. »Wirklich, ich spare so viel Geld für Geschenke, denn meine Frau hat am 29. Februar Geburtstag und so muß ich ihr nur alle vier Jahre etwas kaufen.«
Abram Bensmans Wohnzimmer könnte sich überall befinden. In Weißrußland oder anderswo. In der wuchtigen Schrankwand stehen die Werke der großen russischen Schriftsteller nebeneinander, in feinen Ledereinbänden. Dazwischen sticht ein »Kochbuch für Faule« mit fuchsiafarbenem Umschlag und kyrillischen Lettern ins Auge. Daneben stapeln sich Kassetten von sowjetischen Liedermachern. Auf dem Couchtisch liegt eine russische Zeitung. Supermarkt-Prospekte, die Bettgarnituren und Schokolade anpreisen, holen den Besucher wieder in die deutsche Wirklichkeit zurück.
»Die Schrankwand mit den gläsernen Türen haben wir vom Flohmarkt«, sagt Bensman. So etwas Zerbrechliches konnten sie auf die Reise nicht mitnehmen. Er erinnert sich noch gut daran: Nach mehr als 40 Stunden Fahrt im Omnibus quer durch halb Europa kamen Abram Bensman und seine Frau Rosa Zaharina schließlich in Karlsruhe an. Dort meldeten sie sich in einem Übergangsheim. »Wir wußten ziemlich wenig von Deutschland, geschweige denn, wo Baden-Württemberg liegt«, sagt Bensman. Doch genau da haben sie hingewollt, denn der Schwager lebt in Stuttgart. Nach drei Wochen im Übergangsheim durchkreuzten jedoch die Behörden die Pläne des Rentnerehepaars. »Pforzheim« stand in Drucklettern auf dem amtlichen Schreiben. Eine Fahrstunde von Stuttgart entfernt. Bensman zuckt mit den Schultern. »Heute weiß ich, daß wir hier viel besser aufgehoben sind als in Stuttgart – alles ist gleich um die Ecke.« Hier im Stadtzentrum sei es zwar ein wenig laut, dafür aber sehr billig. 600 Euro Grundsicherung bekommt Bensman vom Staat. »Das reicht vollkommen, wir leben sehr gut davon«, sagt Bensman.
Das allerdings sei nicht der Grund gewesen, warum sie sich für die Ausreise nach Deutschland entschieden haben, fügt er hinzu. »Denn wir hatten ja dort unsere Rente.« Tschernobyl sei es gewesen – das habe seine ganze Familie sehr beunruhigt. 1986, als die Reaktorkatastrophe geschah, schwieg die sowjetische Regierung tagelang. »Wir hätten uns geschützt, wenn wir es gewußt hätten«, sagt Bensman. Statt dessen ging er spazieren, wie unzählige andere Menschen in Weißrußland. Und am Himmel brauten sich verheerende Giftwolken zusammen. Noch Jahre später wurde Abram Bensman an die Reaktorkatastrophe erinnert. »Manchmal haben wir Pilze gesammelt und sie zu einer staatlichen Prüfstelle gebracht. Doch wenn die radioaktive Belastung zu hoch war – weg damit.« Er macht eine Handbewegung, als wolle er einen unsichtbaren Eimer auskippen. Er überlegt einen Augenblick. Pilzesammeln sei in der ehemaligen Sowjetunion ein Volkssport. In Deutschland habe er noch niemanden mit diesem Hobby kennengelernt. »Die Deutschen haben regelrechte Panik vor selbstgesammelten Pilzen.«
In Pforzheim gibt es fünf russische Lebensmittelläden, in denen Bensman regelmäßig einkauft: Schwarztee, Bücher, Musikkassetten. Nostalgie empfinde er jedoch keine. Wegen der Lebensmittel schon gar nicht. Auch Freunde und Verwandte in Weißrußland lassen ihn nicht wehmütig werden. »Einige leben im Ausland, andere sind gestorben«, sagt er. Nur die Tante seiner Frau sei noch geblieben. Und die Gräber der Eltern, um die man sich kümmern müsse. Daher habe er mit seiner Frau auch schon zweimal die lange Busreise angetreten zurück in die Vergangenheit.
Die nächste Reise ist schon geplant. »Vermutlich im Herbst«, sagt Bensman. Israel heißt das Ziel. Dort wohnt die älteste Tochter aus erster Ehe. Die heute 51jährige hat sich vor einem Jahrzehnt mit Schwiegermutter, Ehemann und zwei Kindern für eine neue Existenz in Israel entschieden. Kontakt halte man telefonisch. »Meine Urenkelin ist zehn. Sie spricht nur gebrochen Russisch mit mir, wenn ich sie anrufe.« Die jüngere von Abram Bensmans Töchtern ist 44. Sie lebt mit ihrem deutschen Ehemann und ihren Kindern in Niedersachsen. An das Kennenlernen seines Schwiegersohnes erinnert sich Bensman und lacht. Der sei damals in Minsk zu Gast gewesen, man habe sich über Monatsgehälter in Weißrußland unterhalten. »Als ich ihm erzählte, daß ich 40 Mark verdiene, fragte er gleich zweimal nach – in der Stunde oder am Tag?«
Die erste Begegnung mit Deutschland war ernüchternd – zumindest in sprachlicher Hinsicht. Deutsch hatte Bensman bereits in der Schule und an der Universität gelernt. In seinem Unternehmen pflegte er Kontakte mit Deutschen und übersetzte Gebrauchsanleitungen. »Doch als ich herkam, stellte ich fest, daß ich überhaupt nichts verstehe.« Vor allem der schwäbische Dialekt sei zunächst fast unverständlich gewesen. Bensman stellte sich sein Pflichtprogramm zusammen: Grammatik lernen mit dem Lehrbuch, Hörverstehen mit Kassetten und täglich deutsches Fernsehen. Erst vor wenigen Monaten entschloß er sich gemeinsam mit seiner Frau, einen Integrationskurs zu besuchen. »Das stimuliert, denn im Kurs müssen wir Hausaufgaben machen«, sagt er. Vor allem für ältere Einwanderer sei die Sprache ein Problem, da sie nicht berufstätig und zu Hause oft isoliert sind.
Bensman spricht überwiegend Russisch, sowohl zu Hause als auch in der Gemeinde, die er jeden Schabbat aufsucht. Dort liest er im Siddur die hebräischen Gebete in kyrillischer Transkription. »Lesen ja, verstehen nein«, sagt er. Eine Synagoge habe er erstmals in Deutschland betreten, obwohl es in Minsk auch eine gibt. »Wir sind anders aufgewachsen, Religion hat überhaupt keinen Platz in unserem Leben eingenommen.« Dennoch kann sich Bensman an viele jüdische Bräuche in seiner Kindheit erinnern, vor allem in kulinarischer Hinsicht. Gefilte Fisch habe es häufig zu essen gegeben. Und der Großvater, der sei religiös gewesen und habe an einer Schule Judentum gelehrt. »Das war in einem Schtetl.« Als ihn Bensman als Kind das erste Mal beim Beten beobachtete, fragt er seine Mutter, warum der Großvater die Lippen stumm bewege. »Er betet«, habe sie ihm geantwortet. Das Wort hatte er zuvor nie gehört, erinnert sich Bensman. »Zu Gott«, habe die Mutter ergänzt. Auch das habe er in seiner frühen Jugend nicht verstanden, sagt der Rentner.
Abram Bensman ist ein Kriegskind. Jahrelang war er mit seiner Mutter auf der Flucht, während der Vater in der Armee kämpfte. Im Juni 1941 wurde die Familie getrennt, es sollte fünf Jahre dauern, bis Vater, Mutter und Sohn wieder zueinanderfanden.
An einem Sommertag überfiel die Wehrmacht die Sowjetunion, Panzer rollten in Richtung Minsk. Die Mutter kehrte rasch in die Wohnung zurück und holte die Ausweispapiere. »Keine Kleidung«, erinnert sich Bensman. Fünf Monate waren sie unterwegs, zu Fuß und mit dem Lastwagen. Irgendwann erreichten sie das Dorf Bogoruslan im südlichen Ural. Dort hatte die Mutter bereits 1920 an einer Grundschule unterrichtet, als Weißrußland von Polen okkupiert war. Nun hoffte sie erneut auf Zuflucht in dem Ort. »Sie dachte, daß sich ihre Schüler noch an sie erinnern würden.« Mutter und Sohn fanden Unterschlupf, arbeiteten hart auf dem Feld, mit 15 Jahren fuhr Abram Mähdrescher. Nach dem Krieg kehrte der Junge mit seiner Mutter nach Minsk zurück, dort trafen sie den Vater wieder. Alle Verwandten, die Minsk nicht verlassen hatten, waren ermordet worden. »Doch das Leben mußte weitergehen«, sagt Abram Bensman – in Gedanken versunken.