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zuwanderer

»Wir waren zwischen den Welten«

von Veronika Wengert

Es ist grün, trägt einen roten Mantel und fesselt drei Augenpaare an den Bildschirm: Gena, das wohl bekannteste sowjetische Trickfilm-Krokodil. Die Zwillinge Maximilian und Simon, fast drei, und der zwölfjährige Leonard schauen der Figur gebannt zu. Und während das Krokodil russische Kinderlieder singt, nutzt Anna Fidlin die Gelegenheit, den Eßtisch zu decken: Artischocken, Kräuteroliven und Tomate mit Mozzarella. Dazu Brote mit geräucherten Sprotten. Die erinnern vage an die frühere Heimat der dreifachen Mutter: Riga, die Hochburg der wohl beliebtesten Fischkonserven in der früheren Sowjetunion. Die Sprotten kauft die 37jährige jedoch längst nicht mehr in Lettland, sondern in Karlsruhe. Zwölf Jahre ist es inzwischen her, daß Anna gemeinsam mit ihrem Mann Alexander, dessen Eltern und ihrer Mutter nach Deutschland auswanderte.
Anna und Alexander – eine typisch sowjetische Liebesgeschichte. Sie wurde in Kaliningrad geboren, wuchs in Riga auf, studierte dort Zahnmedizin. Er verbrachte Kindheit und Jugend in St. Petersburg, machte dort ein Universitätsdiplom in Mechanik. »Kennengelernt haben wir uns in Riga«, erinnert sich Anna. Sofort verbessert sie sich und lacht herzlich. »Nein, eigentlich haben nicht wir uns kennengelernt, sondern meine Mutter und Alexanders Großvater, der zu Besuch war.« Und da ihm Riga so gut gefallen habe, schickte dieser prompt seinen Enkel zur Erholung dorthin. Anna zeigte Alexander ihre Stadt, Amors sprichwörtlicher Pfeil tat sein übriges.
Im August 1991 heirateten die beiden. Nur zwei Wochen später putschte die alte Garde gegen Gorbatschow, die Sowjetunion zerbrach. Lettland erklärte seine Unabhängigkeit. Für Anna, die damals in St. Petersburg Arbeit suchte, begann der bürokratische Teufelskreis. In Riga wollte sie sich nicht abmelden, sonst hätte sie ihre Eltern nur erschwert besuchen können. Und ohne Anmeldung in St. Petersburg, das damals noch Leningrad hieß, gab es keine Aussicht auf eine feste Arbeitsstelle. Für Alexander sei es schwierig gewesen, dauerhaft nach Lettland überzusiedeln, da er dort keine engen Verwandten hatte. Und die Ausstellung eines Visums habe in dieser turbulenten Zeit mehrere Wochen gedauert. »Wir waren auf einmal zwischen den Welten«, erzählt Anna und schüttelt den Kopf ungläubig. Dabei habe man sich gerade etwas aufbauen wollen, eine gemeinsame Zukunft. »Irgendwie gab es kein Land für uns«, fährt sie fort. Daher habe man sich nach einem alternativen Ort umgesehen.
Israel als neue Heimat schied von vornherein aus, dort hätte sich Alexander nicht so entwickeln können. Sein Forschungsbereich, die Mechanik, stecke in Israel noch in den Kinderschuhen, sagt Anna. Das junge Paar verschickte Bewerbungen für Deutschland, Brasilien und Australien. Die erste Zusage kam schließlich acht Monate später – aus Thüringen, im Rahmen des Programms für sogenannte Kontingentflüchtlinge. Europa sei eine gute Entscheidung gewesen, sagt Anna. Es läge ihr einfach am nächsten. Das habe sich im Lauf der Jahre auch bestätigt.
Nach Deutschland kamen die Fidlins auf dem Seeweg, gemeinsam mit Annas Mutter und Alexanders Eltern. Ein Bekannter empfing die fünf Einwanderer im Hafen Travemünde an der Ostsee und brachte sie ins hessische Wetzlar. Doch dort wartete niemand auf sie. Anna war bereits im achten Monat schwanger, sprach kein Wort Deutsch. In einem Aufnahmelager für Flüchtlinge fand sich ein Zimmer, allerdings nicht für lange Zeit. Mitten in der Nacht kehrte der verschollen geglaubte Bewohner nach Hause zurück. »Es gab ein Riesengeschrei, als der die fremden Menschen in seinem Bett vorfand«, sagt Anna und lacht herzlich. Völlig übernächtigt suchten die Fidlins am kommenden Tag die zuständige Behörde in Gießen auf. Dem dortigen Beamten sei man bis heute dankbar, sagt die junge Frau. Er habe damals verstanden, daß sich die Familie nicht trennen wollte – denn eine Einladung für Hessen hatte nur Annas Mutter, die übrigen vier Neuankömmlinge hätten hingegen in Thüringen leben sollen. »Dann hätten wir schon wieder zwischen den Stühlen gesessen.«
»Burgblick« – diesen idyllischen Namen sollte Annas neues Zuhause tragen. Ein Wohnheim, irgendwo in Hessen. 800 Einwohner, kein Arzt, kein Geschäft. Zwei Mal im Monat konnte ein Mitglied pro Familie den Hausmeister bei der Fahrt in den Supermarkt begleiten. »Wir waren so unerfahren, noch nie zuvor hatten wir Vorräte für zwei Wochen gekauft«, erinnert sich Anna. Ihre ersten Einkäufe hätten daher gerade mal für drei Tage gereicht. Mit dem Wörterbuch in der Hand erschlossen sich die Fidlins die deutsche Lebensmittellandschaft im Supermarkt. Mit dem Buch unterm Arm wurde Anna schließlich auch in ein Krankenhaus in Wetzlar eingeliefert, als die Wehen einsetzten. »Dort dachte man zunächst, daß wir Amerikaner seien, da wir nur Englisch sprachen«, erzählt Anna. Daher habe man ihnen einen amerikanischen Arzt zugewiesen. Dieser entdeckte jedoch das Wörterbuch bei Anna. »Und so kam die russische Hebamme gerade noch rechtzeitig zur Entbindung.«
Als der kleine Leonard zwei Jahre alt war, fand Alexander eine Stelle: in Baden-Württemberg, bei einem Autozulieferer in Bühl. »Das war großes Glück, denn Mitte der 90er hatten es Ingenieure schwer, und Ausländer suchte erst recht niemand«, sagt Anna. Gemeinsam mit Sohn und Eltern zog das Paar schließlich nach Karlsruhe. Als Kompromiß bezeichnet Anna die Wohnortwahl, auf halbem Weg zwischen Bühl und Heidelberg. Dort wollte die junge Frau ursprünglich noch Kurse in Zahnmedizin belegen. Doch die Idee erledigte sich von selbst. »In Hessen hätte ich mein halbes Studium nachholen müssen, in Baden-Württemberg war zum Glück nur das Anpassungsjahr gefordert.« Sie fand mehrfach eine Beschäftigung als Zahnärztin, jedoch immer nur befristet. Seit der Geburt ihrer Zwillinge vor fast drei Jahren ist Anna Hausfrau. »Leider wartet keine Stelle auf mich nach der Elternzeit, daher muß ich noch einmal ganz von vorne anfangen – wieder einmal.« In Kürze wird Anna die deutsche Staatsbürgerschaft erhalten – und die Approbation als Zahnärztin.
Karlsruhe sei die beste Wahl gewesen, sagt sie. Hier fühle sie sich inzwischen zu Hause. »Mein Mann und ich sind Stadtmenschen, zwei Jahre auf dem Dorf, das reicht.« Trotz aller Zufriedenheit vermisse sie manchmal die Ostsee, sagt Anna. Aber sonst empfinde sie keine Nostalgie. In Lettland habe sie nur noch eine einzige Freundin, die anderen seien inzwischen in alle Winde zerstreut. »Wir informieren uns gern im Fernsehen und in der Zeitung über die Ereignisse im Baltikum, aber geistig sind wir längst in Deutschland angekommen«, sagt Anna. Es war eine lange Ankunft, ein Mosaik aus vielen kleinen Erlebnissen und Erfahrungen.
Erste Anlaufstelle in Karlsruhe war die jüdische Gemeinde. Hier haben die Fidlins viele Leute kennengelernt, vor allem bei einem Treffen für junge Erwachsene. Die Kontakte pflege man bis heute – allerdings auf privater Ebene, nicht in der Gemeinde. »Wir sind alle ohne Religion aufgewachsen, vielleicht haben wir etwas verpaßt, aber so auf die Schnelle können wir das kaum nachholen«, sagt Anna. Daher feiere man auch nicht den Schabbat, sondern nur die größten Feiertage. Das war schon bei der Großmutter in Riga so. Ihren Sohn Leonard, der den jüdischen Religionsunterricht besucht, nennt Anna stolz »unser Lehrer«, denn er wisse mehr übers Judentum als sie. Anna zieht aus der Schublade eine Karte mit einem hebräischen Gebet hervor, während Leonard seine beiden Kippot herbeiträgt: eine schlichte schwarze und eine blaue mit silbernen Stickereien, für die Feiertage. Nun kann auch Krokodil Gena die beiden Zwillinge nicht mehr auf der Couch fesseln, die neugierig die Kippa betrachten, anfassen und nun lautstark von ihrer Mutter ein wenig mehr Beachtung einfordern.

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