von Micha Brumlik
Der 70. Jahrestag der Novemberpogrome wurde in der Synagoge in der Berliner Rykestraße eindrucksvoll begangen. Bundeskanzlerin Angela Merkel und die Präsidentin des Zentralrats der Juden, Charlotte Knobloch, fanden eindringliche Worte. Gleichwohl beschlich den Zuhörer der Eindruck, als wollte sich die jüdische Gemeinschaft, mahnend und flehend zugleich, ein weiteres Mal unter die Obhut des deutschen Staates stellen. Wer sich dabei an das mittelalterliche Institut des Schutzjudentums erinnert fühlt, liegt wohl nicht ganz falsch. Tatsächlich ist ja nicht zu verkennen, dass sich derzeit antisemitische Vorfälle häufen. Dort wird ein Friedhof geschändet, hier ein Rabbiner angegriffen. Dann wieder schlägt Kritik an bestimmten Formen israelischer Besatzungspolitik in Judenhass um. Und zwischendurch verwenden ansonsten seriöse Politiker abwegige NS-Vergleiche.
All dies ist beunruhigend, zweifellos. Aber bei aller Häufung dennoch so selten, dass zu Alarmismus kein Anlass besteht. Man muss die Relationen sehen: Auf die Gesamtzahl der Bevölkerung Deutschlands bezogen, sind Friedhofsschändungen und sogar gewalttätige Angriffe auf Juden zwar irgendwie erwartbare, aber dennoch unwahrscheinliche Ereignisse, die ohne einen tiefgreifenden Wandel der gesamten Sozialstruktur und des Bildungswesens kaum abnehmen werden. Delinquenz, auch judenfeindliche, ist in gewisser Hinsicht »normal«, was nichts daran ändert, dass jeder einzelne Vorfall ein Skandal ist.
Auch schiefe Äußerungen von Politikern gehören zu dieser Art Normalität: Als gewählte Vertreter des Volkes sind sie nicht besser und nicht schlechter als das Volk selbst. Da diese Politiker ihr Land und dessen Bürger nicht nur abbilden, sondern zum Besseren hin repräsentieren sollen, ist es unerlässlich, dass sie bei missverständlicher Wortwahl um Entschuldigung bitten. Doch bei wem sollen sie das tun? Ist es wirklich sinnvoll, beim Zentralrat der Juden Vergebung zu suchen? Ist es denn die jüdische Gemeinschaft, die sich hier gleichsam persönlich beleidigt und verunglimpft fühlen muss? Wäre es nicht angemessen, dass jüdische Instanzen weder solche »Entschuldigungen« einklagen noch diese huldvoll entgegennehmen? Wird mit solchen Äußerungen nicht vielmehr die Staatsräson der ganzen Republik angetastet, wie sie Artikel 1 des Grundgesetzes mit der Unverletzlichkeit der menschlichen Würde postuliert?
Es kann den selbstbewusst wahrgenommenen Interessen der Juden hierzulande nicht zuträglich sein, als Mahnaugust oder gewohnheitsmäßige Kranzabwurfstelle zur Verfügung zu stehen. Ganz abgesehen davon, dass ein routiniertes Entschuldigungsverfahren rasch jeder Ernsthaftigkeit ermangelt und, schlimmer noch, Teil einer bewussten Strategie werden könnte. Böswilligen gäbe das die Möglichkeit, antisemitische Bemerkungen zu machen und dabei von vornherein einzukalkulieren, dass sie nur kurz darauf um Entschuldigung bitten müssten, um sich selbst aus der Schusslinie zu nehmen – während ihr verbales Gift in der Öffentlichkeit weiterwirkt.
Nicht zuletzt bedarf es mehr als 60 Jahre nach der Schoa eines gewissen soziologischen und politischen Realismus. Nach allem, was man wissen kann, ist – trotz Wirtschaftskrise und sich wandelndem Parteiensystem – die Demokratie der Bundesrepublik gefestigt, zuverlässig und in ein enges Netzwerk transnationaler Institutionen wie die EU eingebunden.
Das festzustellen, heißt nicht, naiv zu sein. Ein nüchterner Blick auf einige europäische Staaten zeigt, was das Gefährlichste derzeit ist: an- und abschwellender, oft gewalttätiger Judenhass in den Banlieues französischer Großstädte, mit verursacht duch verfehlte Immigrationspolitik; widerlicher, von der Regierung Berlusconi geschürter Rassismus gegen die Roma in Italien; und die bis zu seinem Tod nicht verstummenden Sprüche eines Jörg Haider über die »guten Seiten« des Nationalsozialismus. Womöglich ist gar der offen vorgetragene Antisemitismus rechtsradikaler Parteien in Ungarn derzeit am bedrohlichsten. Von alledem ist Deutschland so weit wie nur irgend denkbar entfernt.
Nein: Die jüdische Gemeinschaft bedarf keines besonderen politischen Schutzes seitens des Staates, sieht man einmal vom islamistischen Terrorismus ab, der Polizei vor Synagogen und Gemeindezentren erforderlich macht. Als Bürgerinnen und Bürger dieses Landes sollten wir ebenso selbstbewusst wie nüchtern darauf beharren, dass alle Formen von Antisemitismus in erster Linie ein Anschlag auf die demokratische Kultur Deutschlands sind – und nicht ein spezielles Problem der Juden.
Der Autor ist Erziehungswissenschaftler in Frankfurt am Main und Publizist.