Isaak Kuris

»Wir sind einfach los«

von Holger Biermann

Das Büro des Herrn Doktor erinnert an ein Jugendzimmer der späten 80er-Jahre. Schlichter Teppichboden, ein Bett mit Tagesdecke, Regal und Schreibtisch aus hellem Furnierholz. Auf Letzterem ein massiger Computer samt Bildschirm. Daneben hängen an einer Schrankwand ein Dutzend Farbfotos. Digitale Abzüge auf Papier. Befestigt mit Klebestreifen. Es fällt schwer zu glauben, das dies der Arbeitsplatz eines 76-jährigen Mannes ist, der in Deutschland schon elf Patente angemeldet hat. Dr. Isaak Kuris ist Ingenieur. Im Kalten Krieg arbeitete er für die Sowjets an vorderster Front. Heute kämpft er in Potsdam für seine Ideen.
Nach dem Blick ins Büro bittet Isaak Kuris in die geräumige Küche seiner Drei-Zimmer-Wohnung. »Bei uns in Russland unterhält man sich immer gut am Herd«, erklärt er und bittet Platz zu nehmen. Er stellt Gebäck und zwei Tassen auf den Tisch und schenkt frischen Kaffee ein. Dann setzt er sich auf den Stuhl vorm Fenster.
Isaak Kuris wurde am 15. Mai 1931 in Kiew geboren. Der Vater war Arbeiter im Stahlwerk, die Mutter Hausfrau. Doch seine Erinnerungen an die Kindheit sind vor allem Erinnerungen an die Natur. Jeden Sommer besuchte er voller Freude die Tante in Boguslaw, der Kleinstadt, aus der die Eltern stammen. Die vielen orthodoxen Juden des Ortes hat Kuris dabei in Gedanken genauso vor sich, wie den breiten Fluss und die großen Steine darin. »Das Wasser war ganz rein«, sagt er fast andächtig. Dieser Ort und jene Zeit scheinen Isaak Kuris’ ganz persönliches kleines Paradies gewesen zu sein.
Die Technik trat erst später in sein Leben. Schrittweise zunächst. Dann plötzlich und in Gestalt deutscher Flugzeuge, Panzer und Raketen mit der ganzen Wucht des großen Krieges. Im August 1941 steht die Wehrmacht in der Ukraine, und die Kuris flüchten nach Mittelasien. In Buchara, einer Stadt im heutigen Usbekistan, findet die Familie Quartier und kommt doch nicht zur Ruhe. Tage-, Wochen-, oft Monatelang gibt es nicht genug zu essen. Isaaks einjährige Schwester stirbt, er selbst kann kaum noch auf den Füßen stehen. »Ich habe nur noch gelegen und war ganz trocken vor Hunger.« Erst als der Vater im Spätherbst 1943 mit einer Verwundung von der Front kommt, wird die Lage besser.
Nach Kriegsende kehren die Kuris ins stark zerstörte Kiew zurück. Isaak besucht die Schule und ab 1950 die Landwirtschafts-Akademie, Abteilung Maschinen und Werkzeuge für Holzbearbeitung. Es ist die Zeit, in der der junge Mann für sich feststellt, dass er durch seine Geburt zwar Jude ist, nicht aber an Gott glaubt. Isaak Kuris glaubt an die Technik. Er hofft auf Erfolg und wird 1955 Ingenieur. Eine Entscheidung, die gut in die kommunistische Zeit passt. Seinen ersten Job bekommt er vom Staat zugewiesen. In Vyattca, rund 1.500 Kilometer nördlich von Moskau, setzt man ihn anderthalb Jahre in einem Kombinat für Holzverarbeitung ein. Man spürt, Kuris friert noch heute innerlich bei dem Gedanken. Doch er steht es durch.
Zurück in Kiew, arbeitet er zunächst als technischer Zeichner und wechselt dann 1961 ins Staatliche Institut für Superharte Materialien. Von nun an kümmert er sich um Diamanten. Nicht um solche, die man Frauen um den Hals hängt, sondern um Industrie-Diamanten. Seine Aufgabe ist das Entwickeln, Untersuchen und Herstellen von Werkzeugen. Von Sägen, Fräsen und Schleifmaschinen, die man – mit Diamantscheiben besetzt – für die Bearbeitung von ultraharten Materialien gebrauchen kann. Im Metallbau wird so etwas eingesetzt, auch in der Medizin, in der Atom- und in der Weltraum-Industrie. »Wenn ich sage Schiffbau, dann meine ich U-Bootbau. Und wenn ich sage Flugzeugbau, dann meine ich Kampfjetbau.« Sein Institut, will er sagen, hat damals in erster Linie fürs Militär gearbeitet. Kuris hat damit nie ein Problem gehabt. Im Gegenteil. Er war begeistert: »Das war in jenen Zeiten die vorderste Front im Kalten Krieg. Man hat zwar nicht mehr verdient als ein Schuhmacher, aber das Klima der schöpferischen Arbeit war anziehend wie ein Magnet.«
Dreißig Jahre verbringt Isaak Kuris in diesem Spannungsfeld. Die Zeit verfliegt. Er heiratet Gertruda, eine Mathematik-Lehrerin. Sie bringt den gemeinsamen Sohn Eugen zur Welt. Und zu dritt erleben sie den schleichenden Niedergang des Sowjet-Imperiums. Mit dem Ende des Kalten Krieges, das so viele Ingenieure arbeitslos macht, geht Kuris 1991 in Rente. Er versucht, alleine weiterzumachen. Er gründet ein Büro in Kiew. Doch schon bald stellt er fest, dass er das Land verlassen muss, wenn er in Ruhe arbeiten will. »In der Ukraine war damals so viel im Umbruch. Als wir von der Möglichkeit hörten, als Kontingent-Flüchtling nach Deutschland zu gehen, sind wir los.«
Seit zwölf Jahren lebt Isaak Kuris nun in der Bundesrepublik. Seit 2005 hat er einen deutschen Pass. Der Sohn, der auch in diese andere Welt hätte mitkommen können, ist in Kiew geblieben. »Er liebt seine Heimat, hat seine Freunde dort. Er möchte nicht gehen«, erklärt Kuris. Außerdem habe sein Sohn als Elektroniker gut zu tun. – Und er selbst? Wie kommt er heute über die Runden? Der 76-Jährige legt seine Visitenkarte auf den Küchentisch. Dr. Isaak Kuris, Spezialist für Diamantwerkzeuge und Spezialbeschichtungen, steht groß darauf und daneben erkennt man ein eigenes Logo. Er sagt: »Durch meine Arbeit im Institut habe ich hier gute Verträge bekommen. Ich arbeite weiterhin selbstständig.«
Seine heutigen Auftraggeber sind Unternehmen aus dem Westen, zuletzt aus der Schweiz und aus Amerika. Seine neuen Verträge haben Laufzeiten von einem, von anderthalb, manchmal von zwei Jahren. Kuris sagt: »Wenn ich einen Auftrag habe, verdiene ich Geld für zwei. Wenn nicht, kehre ich zurück zur Grundsicherung.« Anspruch auf eine anständige Rente hat er nicht in Deutschland. Dafür einen scheinbar unerschütterlichen Glauben an sich selbst, an die Technik und sein Können.
Zuletzt entwickelte Kuris erfolgreich eine Technik zur effizienteren Verarbeitung von Baumwolle. »Mehr darf ich darüber gar nicht sagen«, tut er geheimnisvoll. Doch es gibt ja genug andere Projekte. Das neue Schleifwerkzeug für Restauratoren zum Beispiel, das er einfach mal so entwickelt hat. Einen Gummi-Handschuh mit biegsamen Diamantfolie-Aufsätzen. Eine Art Schmirgel-Handschuh, bei dem jeder Handschuhfinger andere Eigenschaften aufweist. Die Idee hat er sich patentieren lassen. Genauso wie ein neuartiges Kartof- felschälgerät und fast ein Dutzend anderer Dinge. »Ich bin immer auf der Suche nach Leuten, die bereit sind, noch einmal in bewährte Ideen zu investieren. Denn dort sitzt das Geld. Viele vor Jahren entwickelte Maschinen könnten heute mit moderner Technologie und neuen Materialien viel, viel produktiver sein.«
Alte bewährte Dinge durchschauen, analysieren und verbessern, das ist Kuris’ Konzept heute. Und vielleicht war dies immer sein Ansatz, denn auch privat setzte er sich im vergangenen Jahr einfach ins Auto und fuhr 1.600 Kilometer Richtung Osten, um die alte Heimat wiederzusehen und dort seinen 75. Geburtstag zu feiern. Er traf seinen Sohn und sah seinen Bruder wieder, der heute in Israel lebt. Und natürlich besuchte er Boguslaw, die geliebte Kleinstadt seiner Kindheit, auch wenn er sie kaum wiedererkannte. »Dabei war die Stadt nicht kaputt«, sagt Kuris. »Aber die Menschen waren andere. Es gibt keine Juden mehr.«

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