von Ronen Guttman
Die Dortmunder sind faire Verlierer. »Ich wünsche der Münchner Gemeinde viel Glück, Kraft und das nötige Kleingeld im nächsten Jahr«, lacht Zwi Rappoport über die verpatzte Chance einer Titelverteidigung bei der diesjährigen Jewrovision. Ein beeindruckendes und bedeutendes Wochenende liegt hinter der Dortmunder Gemeinde, betont Rappoport, und hinter den dünnen Brillengläsern des 60-Jährigen wird der Blick ernst. Das jüdische Herz Deutschlands habe für 48 Stunden in der westfälischen Großstadt gepocht, ist er überzeugt.
Arroganz? Weit gefehlt. Im Gegenteil, im Mittelpunkt des Geschehens zu stehen, sei eine ganz neue Erfahrung, sagt Rappoport, Richter am Amtsgericht und Mitglied des Schiedsgerichts des Zentralrats der Juden in Deutschland. »Bevor die Zuwanderung einsetzte, zählte unsere Gemeinde nicht einmal 300 Seelen«, erinnert Rappoport an die Zeit vor dem Zustrom jüdischer Menschen aus den Ländern der GUS. Die Gemeinde war überaltert, die Jugend suchte ein Leben in den wirtschaftlich starken Metropolen. »Eine Generation später wäre die Gemeinde geradezu ausgestorben«, sagt Rappoport. Doch heute zählt sie 4.000 Mitglieder und hat damit einen Zuwachs aufzuweisen, der bundesweit seinesgleichen sucht.
In den 90er Jahren fehlten in Dortmund nötige Strukturen einer Großgemeinde, man sei mit der Zuwanderung oft überfordert gewesen. Sprachliche Barrieren und nahezu gegensätzliche Lebenshintergründe erschwerten einen persönlichen Kontakt zusätzlich. Probleme, die das Gemeindeleben überall in Deutschland bestimm- ten und tiefe Gräben schufen, die es auch gegenwärtig noch zu überwinden gilt. »Aber wir haben uns arrangiert und es hier ganz gut hingekriegt«, findet Rappoport.
Die Gemütlichkeit von damals sucht man heute vergeblich, durch das Angebot der Gemeinde und die Fürsorge der zahllosen Ehrenamtlichen ist man bemüht, den familiären Charakter beizubehalten. Der junge Rabbiner Avichai Apel, seit zwei Jahren in Westfalen, hat sich zudem als Glücksgriff erwiesen, denn er spricht die Menschen in ihrer Muttersprache an und initiiert immer wieder neue Projekte. Heute finden, den älteren Mitgliedern zuliebe, fast alle Veranstaltungen zweisprachig statt. Mehr als ein Dutzend Deutschkurse werden angeboten. Der Jugend gilt ein besonderes Augenmerk. »Vor drei Jahren haben wir einen jüdischen Kindergarten eröffnet, an den Wochenenden kommen 50 Kinder zusätzlich in die Sonntagsschule, und ein Kinderhort überbrückt die Zeit, bis wir die jüdische Grundschule eröffnen werden«, zählt Rappoport auf.
Eine Großgemeinde zu sein ist immer noch ungewohnt. Durch ein Event wie die Jewrovision mit 400 Gästen einige Tage lang das jüdische Herz Deutschlands zu sein, umso mehr. »Wir wussten, was auf uns zukommen würde, aber als der ohnehin große Gemeindesaal zu den Mahlzeiten fast überfüllt war – das war atemberaubend«, sagt Rappoport beeindruckt. So kannte er seine Gemeinde bislang nicht.
Am nächsten Morgen sollte eine neue Torarolle eingebracht werden. Man hatte den Termin sehr bewusst gewählt, auch wenn er in der Gemeinde zunächst umstritten war. »Doch es war die richtige Entscheidung.« Lange hatte man gezögert, ob man mit dem traditionellen Tora-Umzug in die Öffentlichkeit gehen oder das Ereignis als innerjüdisches Fest im Gemeindezentrum begehen solle. Er selbst habe auch gezweifelt, bekennt Rappoport. Er verstecke sein Judentum nicht, sagt er. Doch als Exot aufzutreten, berge die Ge-fahr, Distanzen zu vergrößern, argumentiert er. Schließlich einigte man sich darauf, mit den Jugendlichen zwar durch die Stadt zu ziehen, den Umzug aber nicht anzukündigen. Als die Jugendlichen am Abend des Songcontests ihre Lebensfreude zelebrierten und ihr jüdisches Selbstverständnis selbstbewusst offenbarten, wurde Rappoport klar, dass es die »absolut richtige Entscheidung« war.
Für viele Nachtschwärmer begann der Umzug am nächsten Morgen sehr früh. Gestartet wurde an dem Ort, an dem einst die Tora gehört wurde, am Platz der ehemaligen Synagoge. Heute steht hier das Opernhaus der Stadt. Singend und tanzend setzte sich der Zug mit den vielen hundert lebensfrohen Jugendlichen und Gemeindemitgliedern in Bewegung.
Doch ein Plakat sorgte für Irritation. »Von der Hausfront blickte das berühmte Bild des Jungen aus dem Warschauer Getto, mit den erhobenen Händen und dem gelben Stern an der Brust, auf die fröhliche Menge.« »Damals wie heute: Nazis sind Verbrecher«, stand dort geschrieben. Rappoport spricht von politischer Symbolik, von einem Zufall, der irgendwie passte, ja kaum besser hätte inszeniert werden können und der Emotionen hervorrief. »Für einen kurzen Moment war zu spüren, dass die Utopie Realität geworden ist. Alte und junge Menschen, Zugewanderte und Alteingesessene sangen und tanzten und versuchten so, ihre Gefühle zu kanalisieren«, fährt Rappoport gerührt fort. Er hatte, wie viele andere, Tränen in den Augen. »Ich wünsche mir, dass wir diese Situation noch lange in Erinnerung behalten werden. Denn das ist unsere Zukunft, sowohl nach innen wie nach außen – gebaut auf ein neues, selbstbewusstes Verständnis von uns selbst.«