Meinung

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Junge Juden wollen Deutschland mitgestalten. Grund dafür ist auch ihre Sozialisation in den Gemeinden

von Ruben Gerczikow  15.08.2023 09:40 Uhr

Ruben Gerczikow Foto: Rina Gechtina

Junge Juden wollen Deutschland mitgestalten. Grund dafür ist auch ihre Sozialisation in den Gemeinden

von Ruben Gerczikow  15.08.2023 09:40 Uhr

Wir leben in einer Epoche der Krisen: der russische Angriffskrieg gegen die Ukraine, der Klimawandel sowie der Höhenflug der AfD. In einer solchen Zeit scheint eine apolitische Haltung ein Luxus zu sein, den sich viele Menschen allein schon aufgrund ihrer eigenen Lebensgeschichte nicht leisten können. Das gilt vor allem für junge Jüdinnen und Juden hier in Deutschland.

Unter meinen jüdischen Freunden und Bekannten registriere ich deshalb das starke Bedürfnis, Deutschland aktiv mitzugestalten. Die überwältigende Mehrheit von ihnen versteht sich als dezidiert politisch und verortet sich innerhalb des demokratischen Spektrums. Und es ist kein neues Phänomen.

interesse Schon seit Jahren wächst das Interesse dieser jungen jüdischen Generation an Politik und Gesellschaft kontinuierlich. Während früher in vielen Gemeinden wohl die Auffassung vorherrschte, dass ihre jungen Mitglieder eigentlich nur an Partys und Schabbat-Dinnern Interesse hätten, so hat sich dieses Bild stark verändert.

Spätestens seit Gründung der JSUD 2016 schießen überall in Deutschland neue Gruppen aus dem Boden.

Denn spätestens seit Gründung der Jüdischen Studierendenunion Deutschland (JSUD) 2016 schießen überall in Deutschland neue Gruppen aus dem Boden. Und mit ihnen auch Orte des gemeinsamen Austauschs und Engagements.

Zwar steht die politische Arbeit nicht bei allen Verbänden an erster Stelle, aber allein durch ihre Existenz bringen sie den Diskurs über das heutige jüdische Leben in Deutschland voran. Alle, die sich jede Woche zusammenfinden und neue Programme ausarbeiten, haben mindestens zwei Sachen gemein: Sie sind jüdisch und machen das ehrenamtlich.

machanot Genau das wird innerhalb der jüdischen Gemeinschaft traditionell sehr großgeschrieben. Bereits die Machanot der verschiedenen jüdischen Organisationen ruhen maßgeblich auf den Schultern der Madrichim, die den Stab dann an ihre früheren Chanichim weiterreichen. Von Generation zu Generation haben sie so Anteil am Erhalt des jüdischen Lebens in Deutschland.

Da sehr viele jüdische Jugendliche die verschiedenen Freizeitangebote der Jugendorganisationen in Anspruch nehmen, lernen sie schon von klein auf, was es wirklich bedeutet, sich für die Gemeinschaft einzusetzen. Etwas nicht nur für sich zu tun, ist Teil der jüdischen DNA in diesem Land. So ebnet die jüdische Jugendarbeit indirekt auch den Weg in den politischen Aktivismus oder die Bereitschaft junger Jüdinnen und Juden, sich in Parteien oder Organisationen zu engagieren. Denn auch hier wird ein wesentlicher Teil der Arbeit ehrenamtlich in der Freizeit geleistet.

Etwas nicht nur für sich zu tun, ist Teil der jüdischen DNA in diesem Land.

Entgegen den Erwartungen der nichtjüdischen Mehrheitsgesellschaft engagieren sich junge Juden nicht wegen, sondern trotz des Antisemitismus politisch. Denn selbst im Jahr 2023 gibt es keine antisemitismusfreien Räume, was die politische Arbeit einer jungen jüdischen Generation immer wieder erschwert. Nichtsdestoweniger ist der Antisemitismus oftmals nicht der eigentliche Grund, warum eine Person sich politisch engagiert.

tätigkeitsfelder Die Mehrheit der jüdischen Gemeinschaft in Deutschland hat eine sowjetische Familiengeschichte. 90 Prozent von ihnen sind russischsprachig, 45 Prozent stammen aus der Ukraine. Allein daraus leitet sich eine Vielzahl politischer und ehrenamtlicher Tätigkeitsfelder ab – sei es der Kampf für die Verbesserung der Integrationspolitik, die Forderung nach mehr Bildung oder seit Februar 2022 die Unterstützung der Ukraine.

Auch bei der Hilfe für ukrainische Geflüchtete waren viele junge Jüdinnen und Juden beteiligt, die beispielsweise in Ankunftszentren beim Übersetzen geholfen, sich an Demonstrationen beteiligt oder Spendenaktionen organisiert haben.

Auch bei der Hilfe für ukrainische Geflüchtete waren viele junge Jüdinnen und Juden beteiligt.

Die Klimakrise ist ebenfalls ein wichtiges politisches Betätigungsfeld für junge Gemeindemitglieder. Häufig wird in diesem Kontext von »Tikkun Olam« gesprochen, einem zentralen jüdischen Prinzip, was so viel wie »Reparieren der Welt« heißt. Diese ethische Haltung ist mitverantwortlich dafür, dass sich viele junge Jüdinnen und Juden im Klima- und Umweltschutz engagieren.

partizipation Die Formen der Partizipation und die Palette der politischen Themen spiegeln die Vielfältigkeit der jüdischen Gemeinschaft wider, was angesichts des virulenten Antisemitismus nicht als Selbstverständlichkeit wahrgenommen werden sollte. Genau deshalb ist es so ermutigend zu sehen, dass sich deutschlandweit junge Jüdinnen und Juden zusammenfinden, ihre Stimme erheben und gemeinsam mit anderen marginalisierten Gruppen auf die Straße gehen und ihre Solidarität zeigen.

Das geschieht aus unterschiedlichsten Motivationen heraus und ohne, dass man sie alle in eine Schublade stecken könnte. Sie alle mögen konservativ oder links sein, sie können gendern oder das generische Maskulin benutzen. Aber eines hat oftmals zu ihrer Entscheidung, sich zu engagieren, beigetragen, und das war die jüdische Sozialisation. Junge Jüdinnen und Juden wollen diese Gesellschaft nach ihren Vorstellungen verbessern und mitgestalten. Als Juden, aber auch als Bürger dieses Landes.

Der Autor ist Publizist und Mitverfasser des jüngst im Verlag Hentrich & Hentrich erschienenen Buches »Wir lassen uns nicht unterkriegen«.

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