Vollgepackt mit Terminen ist mein Alltag. Aber das ist in Ordnung, ich mache das ja alles freiwillig! Gerade stecke ich mitten in der Vorbereitung unseres nächsten Treffens mit dem Klub »Gescher«, das ist Hebräisch und bedeutet »Brücke«. Vor vier Jahren habe ich diesen Klub in unserer Gemeinde gegründet. Hauptanliegen ist die Integration von uns Zuwanderern. Sie ist notwendig nicht nur für unser Gemeindeleben, sondern auch für das Zurechtkommen im neuen Land. Es geht nicht nur darum, die Sprache zu beherrschen und die Gesetze zu kennen. Einander zu verstehen und tolerant zu sein, ist ebenso wichtig.
Mein Mann Nikolai und ich haben seit unserer Ankunft in Deutschland 1999 immer daran gearbeitet, unsere Sprachkenntnisse zu verbessern und ganz bewusst den Kontakt zu Einheimischen gesucht. Von Anfang an wollten wir hier richtig ankommen und Leipzig als neues Zuhause akzeptieren. Zu unserem Freundes- und Bekanntenkreis gehören heute auch viele Nichtjuden, und wir haben sogar einen kleinen Schrebergarten. Typisch deutsch, was?
Geboren wurde ich 1940 in einer Kleinstadt in Moldawien. Wegen des Kriegs mussten wir von dort flüchten, und wie Tausende andere wurde meine Familie 1944 nach Sibirien evakuiert. Meine Mutter starb dort an den Folgen von Unterernährung und fehlenden Arzneimitteln. Da war ich noch keine vier Jahre alt. Meine Großmutter kümmerte sich um mich und meine drei Geschwister. Mein Vater war Arzt, Gründer eines Spezialkrankenhauses für Tuberkulosekranke. Er ging in seinem Beruf auf – und übertrug diese Begeisterung auf mich.
Während meines Medizinstudiums in Sankt Petersburg, das damals Leningrad hieß, lernte ich meinen Mann Nikolai kennen. Gemeinsam gingen wir nach dem letzten Examen nach Murmansk. Dort im hohen Norden hielten wir es aber nur ein Jahr aus – die langen Wintermonate, die Kälte und Dunkelheit, das war nichts für uns. So gingen wir zurück nach Moldawien und fingen im Krankenhaus an, in dem auch mein Vater arbeitete. Ich spezialisierte mich als Kinderärztin auf dem Gebiet der Pulmologie, der Lungen- und Bronchialerkrankungen, wurde Leiterin der Kinderabteilung des Krankenhauses und veröffentlichte auch wissenschaftliche Arbeiten über Tuberkulose. Mein Mann war zunächst in der Ambulanz tätig und wurde später Chefarzt im Krankenhaus. Das waren sehr arbeitsreiche Jahre. Vermutlich haben wir deshalb auch keine Kinder bekommen. Dennoch waren wir recht zufrieden, die Arbeit im Krankenhaus erfüllte uns.
Nach dem Zusammenbruch des Ostblocks 1990 – das jüdische Leben blühte kurz auf – engagierte ich mich in der Gemeinde, gründete dort einen Frauenklub und besuchte Kranke. Doch ab 1992 wurden die Zustände in unserer Region Transnistrien und auch in unserem Krankenhaus katastrophal: Es tobte eine Art Bürgerkrieg, weil die Region die Unabhängigkeit von Moldawien anstrebte und es dagegen massiven Widerstand gab. Im Krankenhaus fehlte es am Nötigsten, und jeden Tag mussten wir um unser Leben fürchten. So reifte der Entschluss, nach Deutschland zu gehen. Obwohl meine beiden Brüder in New York und meine Schwester in Haifa leben, kam für uns nur Deutschland in Frage. Wir lieben die deutsche Kultur und Lebensart.
1999 landeten wir im Aufnahmelager Oschatz, ein halbes Jahr später gingen wir nach Leipzig. Wir wurden von der Jüdischen Gemeinde herzlich empfangen, das war eine gute Erfahrung. Auch wenn wir viele Jahre unser Judentum nicht praktiziert haben, fühlen wir uns doch als Juden. In Leipzig können wir jüdisch leben, und darüber sind wir sehr glücklich.
Und weil wir selbst etwas dafür tun möchten, dass sich die Verständigung innerhalb der Gemeinde weiter verbessert, habe ich 2004 »Gescher«, ein Forum für Zuwanderer und Alteingesessene, gegründet. Gleich das erste Treffen stieß auf große Resonanz, und bis heute ist der Klub sehr beliebt: Zu den monatlichen Treffen kommen etwa 40 bis 50 Gemeindemitglieder. Unsere Verständigungssprache im Klub ist Deutsch: Nur manchmal – wenn wir zum Beispiel über Dichter sprechen – werden Texte ins Russische übersetzt. Unsere Themen sind vielfältig: Ob Leipziger Stadtgeschichte, deutsche Literatur, Wirtschaft oder Synagogalmusik – immer gibt es einen kleinen Vortrag, und anschließend sprechen wir über das Thema. Dabei sind es nicht nur die Alteingesessenen, die ein Thema vorbereiten, auch »unsere Leute«, die Zuwanderer, tragen aktiv zum Programm bei. Ich sage immer: Verständnis füreinander kommt nur durch das Reden miteinander. Wir sind alle gemeinsam auf einem guten Weg.
Ich bin aber nicht nur im Klub »Gescher« aktiv. Auch »Bikkur Cholim«, unser Krankenbesuchsverein, liegt mir sehr am Herzen. Wir gehen zu Gemeindemitgliedern, kümmern uns um sie, reden mit ihnen. Das hilft vielen sehr. Und als medizinische Fachkraft kann ich natürlich gut mit kranken Menschen umgehen.
Aber auch aus eigener Erfahrung weiß ich, was für ein gutes Gefühl es ist, wenn man sich auf die Fürsorge und Hilfe anderer verlassen kann: Ich habe Krebs, schon mehrere Operationen und Therapien liegen hinter mir. Doch ich versuche, nicht so viel daran zu denken und lieber Dinge zu tun, die nützlich sind und mir Spaß machen. Es gibt ja so viel zu tun! Zum Beispiel auch in der wissenschaftlichen Gesellschaft unserer Gemeinde, in der wir unter anderem unentgeltlichen Nachhilfeunterricht für unsere Kinder organisieren. Die Erfolge machen uns stolz, zum Beispiel haben einige Leipziger Kinder an der Mathe- matik-Olympiade der jüdischen Gemeinden in Berlin teilgenommen und gute Ergebnisse erzielt.
Ich bin auch Vorsitzende des Frauenklubs, wurde im letzten Oktober schon zum zweiten Mal in die Repräsentantenversammlung unserer Gemeinde gewählt und gehöre jetzt auch dem fünfköpfigen Vorstand an. Mein »jüngstes Kind« ist ein Klub für unsere ältesten Gemeindemitglieder. Viele sind über 80 Jahre alt und nicht mehr sehr mobil. Weil sie am gesellschaftlichen Leben oft nicht mehr aktiv teilhaben können, leiden viele unter Einsamkeit. Der Klub will sie genau davon befreien. Wir organisieren Treffen, wählen passende Themen aus, holen die alten Menschen zu Hause ab und bringen sie zurück. Das wird sehr dankbar angenommen. Damit sie aber nicht unter sich bleiben, möchte ich sie demnächst mit den Jungen zusammenbringen: Die alten Menschen können von ihrem Leben erzählen, die jungen Leute erleben auf diese Weise lebendigen Geschichtsunterricht. Und sie können wiederum die Alten mit kleinen Darbietungen unterhalten und erfreuen. Das dürfte für beide Seiten interessant und nützlich sein! Ich bin gespannt, wie das erste Treffen dieser Art verlaufen wird.
Ja – und so lebe ich immer mit einem vollen Terminkalender und habe selten Zeit zum Müßiggang. Aber es macht mir viel, viel Spaß. Das Wichtigste ist für mich schon immer gewesen, etwas für andere tun zu können. Ganz gleich, ob in meinem Beruf oder im privaten Umfeld. Ich bin glücklich.
Aufgezeichnet von Gundula Lasch