»Wir sind alle Reservisten«
Wie Israel innerhalb von Stunden Väter und Söhne mobilisiert
Mit den Raketen auf ihr Land und dem Beschuß des Libanon fühlt sich Carmit Zuhr an alte Zeiten erinnert. Dunkle Zeiten. Im Libanon-Krieg von 1982 starb ihr einziger Bruder. Er war damals 20 Jahre alt. Heute ist die Sozialarbeiterin aus Tel Aviv Ehefrau und Mutter von zwei Töchtern. Sollten Bodentruppen in das Nachbarland geschickt werden, ist es wahrscheinlich, daß auch ihr Mann, der in ei-
ner Spezialeinheit diente, eingezogen wird. Dieses Wissen läßt die 42jährige in diesen Tagen nicht zur Ruhe kommen. »Ich habe den Verlust meines Bruders nie verwunden«, gibt sie zu. »Der bloße Gedanke, daß ich noch einmal einen Teil meiner Familie verlieren könnte, bringt mich fast um den Verstand.«
Zuhr ist nicht die einzige Mutter, Ehefrau oder Tochter mit Angst vor der Mobilmachung. Denn mit dem Ende der obligatorischen Militärdienstzeit von drei Jahren ist für Männer in Israel noch lange nicht Schluß mit dem Militärdienst. Bis vor zehn Jahren mußte jeder bis zum Alter von 54 jährlich den Reservedienst Miluim antreten. Er dauert zwischen vier Wochen und 60 Tage für Offiziere und bis zu 80 Tage für Piloten. Nach der Einwanderung aus der ehemaligen Sowjetunion aber waren mehr Menschen im Land als die Armee brauchte. So müssen Männer heute nur noch bis zum Alter von 45 oder 50, je nach Einheit, zum Miluim.
Die Reservisten sind inzwischen Ärzte, Computerspezialisten, Bauarbeiter oder Lehrer. Und alle werden in dieser Zeit aus dem normalen Leben gerissen und müssen ihre Uniformen aus dem Schrank holen. »Papa kommt in den nächsten Wochen nicht nach Hause, er ist beim Mi- luim.« Diesen Satz hat in Israel schon jedes Kind gehört. Reservisten werden je nach Qualifikation überall eingesetzt: in der Schreibstube, beim Panzerreinigen und an der Front in Gasa oder Libanon. Aus Sicherheitsgründen werden keine genauen Zahlen veröffentlicht, Experten gehen von etwa 400.000 Reservisten aus. Im Fall eines Krieges kann jeder Mann, der den Pflichtdienst abgeleistet hat, binnen weniger Stunden eingezogen werden.
Wie Arik Ezuz. Der 67jährige trägt den typischen blauen Overall der Piloten. Jets fliegt er schon lange nicht mehr, seinen Schneid indes hat er nicht verloren. Er ist ein großer Mann mit durchdringenden Augen und breitem Nacken. In fast allen Kriegen Israels sei er dabei gewesen, erzählt er. Wegen seiner außergewöhnlichen Erfahrung dient er noch immer als Reservist. Nach dem Ausbruch der Unruhen übernahm er die Leitung der Militärbasis Machanaim in der Nähe von Safed. Auch hier schlugen in den vergangenen Tagen immer wieder Katjuschas ein.
»Es geht nicht so sehr darum, was wir tun wollen, sondern was wir tun müssen«, sagt Ezuz. »Ich diene in der Armee, also diene ich meinem Land. Das ist unsere Mission.« Bis 50 flog er die »Phantom F4«, 15 Jahre lang war er später Ausbilder junger Piloten. Doch auch mit 67 sitzt er nicht zu Hause, wenn die Sirenen schrillen. Ehefrau Racheli kennt es nicht anders. »Ich habe Arik geheiratet, weil ich ihn liebe und er mich«, sagt Racheli, »aber die Armee geht immer vor. Wir in Israel sind einfach alle Reservisten.« Sabine Brandes