von michael caspar
Kerzengerade sitzt Tatjana Gofman auf dem Sofa in ihrer Göttinger Wohnung. Über ihr an der Wand hängt ein Hirschkopf mit Uhr. »Eine Erinnerung an meinen Mann«, erklärt die 57jährige. »Er hat sich immer gewünscht, daß unsere Tochter in einem zivilisierten Land aufwächst.« Erst nach dem Tod des Mannes 1995 habe sie sein hartes Urteil über Rußland ernst genommen. Damals wurde die wirtschaftliche Lage immer schwieriger und Feindseligkeiten gegen Juden nahmen zu, ohne daß die Regierung dagegen einschritt. Tatjana Gofman beriet sich mit ihrer vier Jahre jüngeren Schwester Evgeniya. Gemeinsam mit der Mutter, die heute 85 Jahre alt ist, entschlossen sie sich, St. Petersburg zu verlassen und nach Deutschland auszuwandern.
»Die erste Zeit in Göttingen war schrecklich«, erinnert sich Tatjana an das Jahr 1999. Sie sprachen so gut wie kein Deutsch. Statt telefonisch einen Arzttermin für die zuckerkranke Schwester zu vereinbaren, mußten sie hingehen und sich mit Händen und Füßen verständlich machen. Dann habe die Schwester anderthalb Monate im Krankenhaus gelegen. Anna, Tatjanas Tochter, die am Gymnasium rasch Deutsch gelernt hat, mußte übersetzen. »Die deutschen Ärzte haben das Bein meiner Schwester gerettet«, sagt Tatjana dankbar. Als Schwerbehinderte brauche Evgeniya nicht mehr zu arbeiten. Um sich fit zu halten, müsse sie allerdings das Trimmrad benutzen. Das steht im Wohnzimmer unter einem Wandteller mit jüdischen Motiven.
Die deutschen Ärzte haben auch ihrer Mutter geholfen, sagt Tatjana. »Sie war fast blind. Nach zwei Operationen kann sie nun wieder sehen.« Die alte Dame liegt im Nachbarzimmer und verfolgt das russische Fernsehprogramm.
»Evgeniya und ich, wir schauen nur deutsche Sendungen«, betont Gofman. »Jedes Wort, das wir nicht verstehen, schlagen wir nach.« Sie zeigt auf das Lexikon, das zusammen mit Fernsehzeitung und Fernbedienung neben ihr auf dem Sofa liegt. Dem Wörterbuch ist die häufige Benutzung anzusehen. Die beiden Schwestern haben seit ihrer Ankunft zahlreiche Sprach- und Integrationskurse besucht: bei der Agentur für Arbeit und der jüdischen Gemeinde, im Migrations- und im Stadtteilzentrum. Mittlerweile beherrschen sie die fremde Sprache fließend. Trotzdem hört man sofort, daß ihre Muttersprache Russisch ist. Und das ist in Deutschland oft von Nachteil. »Mein Akzent erschwert die Arbeitssuche«, bedauert Tatjana.
In Rußland arbeitete sie zuerst als Laborantin in einem Transformatorenwerk. Nach Feierabend machte sie ein Abendstudium zur Metall-Ingenieurin. Weil ihr Vater – er war Militärarzt – bereits mit 45 Jahren starb, habe sie früh auf eigenen Beinen stehen müssen. Nach ihrem Ingenieursexamen bewarb sie sich. Der neue Arbeitgeber sei von ihr begeistert gewesen – bis er in ihren Paß geblickt habe. »Dort stand unter Paragraph fünf, daß ich Jüdin bin.« Plötzlich war die Stelle vergeben. Kurz darauf habe die Firma die Stelle Tatjanas nichtjüdischer Freundin angeboten. »Entsetzt über diese Ungerechtigkeit, wollte sie die Arbeit nicht annehmen«, berichtet Tatjana Gofman. »Nimm die Stelle. Ich bleibe im alten Werk«, habe sie zu ihrer Freundin gesagt. In dem Unternehmen sei sie bis zu ihrer Auswanderung tätig gewesen, zuletzt als Abteilungsleiterin für Qualitätskontrolle.
Weil in Deutschland Tatjanas Ausbildung nicht anerkannt wird, besuchte sie bei der Volkshochschule einen Berufsintegrationskurs für Frauen. Als der zu Ende war, machte sie ein Jahr lang ein Praktikum in der Filiale einer Drogeriekette. Im Anschluß daran arbeitete sie im selben Geschäft noch drei Monate als Aushilfe. Seither liest sie regelmäßig die Stellenanzeigen der Zeitungen und schreibt Bewer- bungen. Bisher vergebens. »Ausländer sind nicht erwünscht«, sagt sie resigniert. »Ich bin schon über 50, und die Arbeitslosigkeit in Deutschland ist hoch.«
Tatjana Gofman wohnt im Göttinger Stadtteil Grone am Rande eines Industriegebiets. In ihrer Straße reihen sich mehrstöckige Wohnblocks aneinander. Viele pensionierte Eisenbahner leben hier. Kontakt zu den Nachbarn hat Gofman kaum. »Meine Schwester und ich werden oft von älteren Damen an der Bushaltestelle in Gespräche verwickelt«, erzählt sie. Manchmal hätten sie Einheimische zu Gast. Gegeneinladungen habe es aber noch keine gegeben. Und Beziehungen zu anderen Juden aus der früheren Sowjetunion pflegen sie fast nur mit einigen Petersburgern. Gofman erklärt das mit Mentalititätsunterschieden.
Am Herzen liegt den Schwestern der Kontakt zur jüdischen Gemeinde. »Unsere Großeltern waren orthodox«, berichtet Tatjana Gofman. Ihr Großvater habe dreimal am Tag gebetet und in der Synagoge einen eigenen Platz in der ersten Reihe gehabt. Gemeinsam hätten sie die jüdischen Feste gefeiert, obwohl ihr Vater Mitglied der Kommunistischen Partei war. »All das vollzog sich hinter verschlossenen Türen. In der Sowjetunion war Religionsausübung nicht erwünscht.«
»Nach der Wende in Rußland konnten wir unser Judentum offen praktizieren«, sagt Tatjana. Damals sei ein 28jähriger Rabbiner aus New York an ihre Petersburger Synagoge gekommen. Der Chabadnik habe sich intensiv um die Jugendlichen gekümmert. Drei Jahre lang besuchte Tatjanas Tochter mit 150 anderen Kindern eine neu gegründete jüdische Schule. »Die Kinder lernten ihre Religion und die jüdische Geschichte kennen. Sie waren so stolz.« In der Sowjetunion sei »Jude« ein Schimpfwort gewesen. Viele russische Juden hätten das verinnerlicht und empfänden ihre Identität auch heute noch als Makel. Bei der jungen Generation sei das anders. Ihre 22jährige Tochter Anna trage offen einen Magen David an ihrer Halskette.
In der Göttinger jüdischen Gemeinde hatten die Gofmans zunächst das Gefühl, daß die Zuwanderer den Alteingesessenen nicht willkommen sind. In Diskussionen habe man sie nicht ernstgenommen, ärgern sich die Schwestern. »Doch mittlerweile werden wir von den anderen Gemeindemitgliedern gegrüßt«, stellt Tatjana fest.
Bei allen Vorbehalten gegenüber ihrer alten Heimat läßt Tatjana Gofman auf das russische Bildungssystem nichts kommen. Die Kinder dort würden in der Schule die klassische europäische Literatur kennenlernen. Sie selbst und ihre Schwester seien mit vielen Büchern nach Deutschland gekommen. »300 Kilogramm wogen die Kisten«, betont sie. Mit den Literaturkenntnissen der Deutschen sei es dagegen oft nicht weit her, weiß Tatjana aus Quizsendungen im Fernsehen. Neulich habe eine Frau auf die Frage, welcher russische Dichter 1837 bei einem Duell gestorben sei, statt Puschkin doch tatsächlich »Solschenizyn« geantwortet. Darüber lachen die beiden Schwestern noch heute. »Die Deutschen lernen in der Schule auch kaum Kopfrechnen«, wundert sich Tatjana. Wenn sie im Supermarkt vor der Kasse warte, zähle sie die Beträge im Kopf zusammen. Und noch bevor die Kassierin die Summe sage, drücke sie ihr das Geld passend in die Hand. Der fassungslose Blick amüsiere sie.
Mit ihrer Schwester trat Tatjana zwischenzeitlich aus der liberalen Jüdischen Gemeinde Göttingen aus und schloß sich der im vergangenen Jahr gegründeten konservativen Jüdischen Kultusgemeinde für Göttingen und Südniedersachsen an. Doch auch diese Mitgliedschaft betrachten die Schwestern nur als Kompromiß. Eigentlich fühlen sie sich dem orthodoxen Judentum zugehörig.