von Elke Wittich
Wer in jüdischen Gemeinden mit dem »Herrn Vorsitzenden« sprechen möchte, muss sich immer häufiger korrigieren lassen. Denn mittlerweile hat in mehr als einem Viertel der Gemeinden eine Frau den Vorsitz inne. Die Gründe, das Ehrenamt anzunehmen, sind so unterschiedlich wie die Lebenswege, Ziele und Motive der Frauen. Doch in einem Punkt sind sie sich einig: Sie wollen nicht auf ihr Geschlecht reduziert, sondern nur nach ihren Fähigkeiten beurteilt werden.
Für Charlotte Knobloch, Präsidentin des Zentralrats der Juden in Deutschland, kommt es nicht darauf an, ob ein Mann oder eine Frau eine Spitzenfunktion einnimmt, sondern darauf, ob die notwendigen Fach- und Führungsqualitäten vorhanden sind. »Es gibt fähige Männer genauso wie fähige Frauen.« Die hohe Zahl an weiblichen Vorsitzenden sei nichts Besonderes mehr. In den vergangenen Jahren habe der Frauenanteil in Spitzenfunktionen in allen gesellschaftlichen Bereichen zugenommen. »Und«, so Knobloch weiter, »da bilden auch die jüdischen Gemeinden keine Ausnahme. Zudem gibt es mehr und mehr Frauen, die sich ehrgeizige Ziele stecken und diese erreichen wollen.«
Die Rolle als Vorsitzende müsse man selbstbewusst wahrnehmen, »um über kleinere Hürden und Vorbehalte hinwegzugehen, die die Männerwelt gelegentlich noch hat«, sagt Orna Marhöfer und lacht. 20 Jahre war die Diplom-Sozialpädagogin im Vorstand der Mannheimer Gemeinde, im kommenden Herbst wird sie sieben Jahre Vorsitzende sein. Der erlernte – und bis heute ausgeübte – Beruf komme ihr in der Gemeinde sehr zugute, meint Marhöfer, »und das nicht nur, weil die Inhalte des Studiums auch die Leitung von Institutionen umfassen«. Durch die tägliche Arbeit mit Menschen lerne man, mit unterschiedlichen Persönlichkeiten umzugehen und individuelle Lösungen zu erarbeiten. »Ich habe klare Vorstellungen darüber, wie man eine jüdische Gemeinde leiten sollte.«
Trotzdem hat Orna Marhöfer zunächst gezögert, als ihr angetragen wurde, für den Vorstand zu kandidieren. »Ich wusste ja nicht, welcher zeitliche Einsatz erforderlich war, welche Verantwortungen und Verpflichtungen auf mich zukommen würden. Aber ich habe meine Entscheidung bis heute nicht bereut.«
Die jüdische Frauenpower führt Judith Neuwald-Tasbach auch darauf zurück,
dass »viele Menschen nicht wollen, dass die Verantwortlichen nur anhand harter Fakten und Zahlen entscheiden«. Gefragt sei viel mehr die Fähigkeit, individuelle Lösungen zu finden, »und das können Frauen vielleicht besser«. Neuwald-Tasbach wurde in die Gelsenkirchener Gemeinde »praktisch hineingeboren. 1958 wurde die Synagoge eingeweiht, ein Jahr später kam ich auf die Welt.« Schon damals war eine Frau im Vorstand, die der heutigen Vorsitzenden Vorbild war: Marie »Mika« Isenberg. Von ihr habe sie viel gelernt, was jüdische Fraulichkeit bedeute. »Sie war da- mals schon eine emanzipierte Frau, die wusste, was sie wollte.« Das weiß auch Neuwald-Tasbach und wünscht sich, mit allen Vorständen besser vernetzt zu sein, um sich besser austauschen zu können.
»Wenn Bedarf bei den anderen weiblichen Vorsitzenden besteht, kein Problem, ich würde die Damen gern zu einem Treffen einladen«, sagt Margret Traub. Seit »ungefähr 20 Jahren, oder sind es schon 21?«, ist sie Vorsitzende der Synagogengemeinde in Bonn, und in dieser Zeit hat die gebürtige Französin eine Menge erlebt. Zu ihrem Amt kam Traub »weil ich gefragt wurde. Unser damaliger Vorsitzender, Herr Schier, hörte auf und fand, dass ich eine gute Nachfolgerin sein würde.« Die Mutter von drei Kindern, die jüngste Tochter war gerade fünf Jahre alt, sagte zu, »obwohl ich eigentlich keine Ahnung hatte, was da auf mich zukommen würde. Aber damals war es auch eine leichte Aufgabe, unsere Gemeinde hatte ja gerade mal 190 Mitglieder.« Mittlerweile sind es dank der Zuwanderung fast 1.000, aber ein Problem ist geblieben: »Wir haben nicht viel Geld und müssen deswegen alles selbst machen.« So werden Besucher bei offiziellen Einladungen oft von der Frau Vorsitzenden höchstpersönlich bekocht. »Ich gehe selbst einkaufen und koche für Pessach«, sagt Traub. »So muss das auch sein. Vielleicht ist das einer der Unterschiede«, meint die Bonner Vorsitzende, »Männer delegieren gern, und wir machen es einfach selbst.« Manchmal sei das alles ganz schön anstrengend. Aber den Vorsitz abgeben, komme eigentlich nicht in Frage. »Ich würde mir vorkommen, als ließe ich meine Kinder im Stich.«
Wenn im Jahr 2012 die Gemeinde in Oldenburg 20-jähriges Bestehen feiert,
dann darf sich Sara- Ruth Schumann auch ganz persönlich zu diesem Jubiläum gratulieren. Die 71-jährige gehört zu den Gründungsmitgliedern und gab 1992 sogar ihren Beruf als Kulturamtsleiterin bei der Stadt Oldenburg und Galeristin auf, um als Vorsitzende ehrenamtlich arbeiten zu können. Probleme, weil die Vorsitzende eine Frau ist, gab es »eigentlich nie«, erinnert sie sich, »wir sind eine konservative Gemeinde mit Gleichberechtigung.«
Dass mittlerweile in sehr vielen Gemeinden Frauen den Vorsitz innehaben, führt Schumann auch darauf zurück, dass sich die Anforderungen geändert haben. Integration sei ein immer wichtigeres Thema geworden, »und da bringen Frauen ein wesentliches Element mit, das ihnen jedenfalls oft nachgesagt wird, nämlich den Sorgekomplex. Der ist eigentlich etwas Positives, denn die Gemeindeleitung erfordert viel Sozialarbeit.«
Gleichwohl, so Schumann, sei es schade, dass viele Frauen sich auf die Position der Vorsitzenden beschränkten. »Frauen ziehen sich leicht auf die Gemeindearbeit zurück und möchten nicht mehr Verantwortung haben«, bedauert sie. Sie wünscht sich, dass mehr Frauen in den nächsthöheren Instanzen auftauchen. »Die Lan- desverbände müssten einfach mehr Frauen ins Direktorium delegieren.«