von Zlatan Alihodzic
An einem Haus mit Schieferfassade in der Altstadt von Mülheim an der Ruhr prangt der Name »Martin Luther«. Drinnen im ersten Stock, umgeben von den Büros des Diakonischen Werks, sitzt Tamara Strijewski in ihrem Sprechzimmer. Es ist weiß angestrichen und sehr hell, den einzigen Farbtupfer bietet der Blick aus dem Fenster, vor dem ein Kirchturm emporragt. Tamara Strijewski braucht keine bunten Bilder oder hübschen Figuren, denn vor dem Schreibtisch der 60-Jährigen spielt sich das Leben in allen Farben ab. Ihr Büro ist die »Soziale Abteilung« der jüdischen Gemeinde Duisburg-Mülheim-Oberhausen. Sie hat im Haus des Diakonischen Werks der Ruhrstadt ihre Heimat gefunden. »Wir haben ein gutes Verhältnis«, sagt Tamara Strijewski. Man helfe einander. Die Diakonie stelle manchmal einen Bus zur Verfügung, und man helfe sich auch, wenn es nicht um Räume oder Autos, sondern um Menschen geht. »Manchmal schicke ich Frauen rüber zur Schwangerschaftsberatung«, sagt Tamara Strijewski. In manchen Situationen macht die Religionszugehörigkeit eben keinen Unterschied.
Für viele Mitglieder ist Tamara Strijewski die wichtigste Adresse der Gemeinde. »Zu mir kommen die Leute mit allen möglichen Problemen«, sagt sie. »Ich spreche mit dem Sozialamt, der Krankenkasse, dem Vermieter. Und ich betreue alles bis zum Ende.« Sie müsse ja schließlich wissen, was dabei herausgekommen ist.
1992 verließ Tamara Strijewski mit ihrem Sohn und ihrem Vater Sankt Petersburg. »Es war wegen des Militärdienstes«, sagt sie. Der sei nichts für Juden, nichts für ihren Jungen, nichts für sie selbst. Jede jüdische Familie in Russland habe versucht, ihre Kinder davon fern zu halten. Außerdem gab es damals auch kaum etwas zu essen, sagt sie. »Nicht, weil wir kein Geld hatten, sondern es war einfach nichts da.« Und als sich dann auch noch antisemitischen Vorfälle häuften, dachte die Familie über ein neues Leben in Israel nach. Doch Tamara Strijewskis kranker Vater wollte sich nicht dem heißen Klima aussetzen. Die deutsche Botschaft habe damals Fragebögen verteilt und die Einreise nach Deutschland angeboten. »Wir haben die Formulare ausgefüllt und gewartet«, sagt Tamara Strijewski knapp.
Erste Station der generationsübergreifenden Auswanderung war Unna. »Dort kam mein Sohn gleich aufs Gymnasium«, erzählt Tamara Strijewski und lehnt sich mit einem stolzen Lächeln zurück. »Er nahm damals an einem Test teil, es ging um die Intelligenz. Danach wurde ich zum Direktor eingeladen, weil das Ergebnis so gut war. Besser hatte vorher niemand abgeschnitten.« Doch die Anerkennung ihres Sohnes währte nicht lange. Als die Familie ins Ruhrgebiet zog, fanden die Strijewskis kein Gymnasium, das das Kind aufnahm. »Ich bin aber eine jüdische Mutter, und die wollen immer das Höchste«, sagt sie grinsend und lacht dann leise über sich selbst. Schon in Russland habe sie Wert darauf gelegt, ihren Sohn jüdisch zu erziehen. »Zwar nicht so, wie man es hier versteht. Aber er geht noch heute freitags oft in die Synagoge.« Nun suche er eine jüdische Frau, erzählt sie und lächelt vielsagend.
Der Direktor einer Schule in Essen riet Tamara Strijewski, ihren Sohn auf ein Internat zu schicken. »Mein Sohn war so erschrocken dort, dass er ganz schnell Deutsch lernte.« Ihm hat es genutzt, aber sein schulischer Fleiß sorgte für eine berufliche Karriere, die ihn von der Mutter wegführte. Er studierte in Düsseldorf, arbeitete dann in Frankfurt, und heute ist er Wirtschaftsberater in Moskau. »Und ich bin alleine in Deutschland«, klagt Tamara Strijewski. Aber sie habe »eine gute Clique«, sagt sie. »Wir helfen uns und fahren manchmal auch zusammen weg. Ich bin zufrieden.« Manchmal ist in ihrem Terminkalender an Freitagen auch noch Platz für das Gebet in der Synagoge. Gern erzählt sie ihren deutschen Freundinnen vom Judentum. Auch in den Räumen der Sozialabteilung baut sie mit anderen Mitgliedern der jüdischen Gemeinde Brücken zu Nichtjuden. »Die Deutschen saßen hier, und wir haben ihnen vom Judentum erzählt, bei Kaffee, Tee und russischem Gebäck. Sie sagten, sie wollen noch einmal kommen.«
In den vergangenen Jahren hat Tamara Strijewski in Mülheim zwischen der jüdischen Gemeinde und den deutschen Freunden ein neues Zuhause gefunden. Ihre alte Heimat, Sankt Petersburg, vermisst sie nicht. »Alle zwei oder drei Jahre fahre ich dorthin, wenn ich auf den Friedhof muss.« Dann besucht sie auch Freunde. Manchmalkommen sie auch nach Deutschland. »Ansonsten telefonieren wir oft.« Ebenso hält sie Kontakt zu ihrem Sohn.
Organisationstalent und Durchhaltevermögen muss Tamara Strijewski nicht nur als Familienmensch beweisen. Wenn das Leben vor ihrem Schreibtisch Fahrt aufnimmt, hält sie Schritt. Eine Ausbildung als Sozialarbeiterin absolvierte sie nie, zahlreiche Seminare sorgten aber für das nötige Wissen. Bauingenieurswesen, Fernmeldetechnik und Städteplanung waren ihre vorherigen Berufe. »Jetzt gefällt es mir aber sehr, mit Menschen zu arbeiten.«
Sie durchblättert die Karteikarten der Fälle in ihrem Kopf, die ihren Schreibtisch kreuzten. »Einmal saß ein Doktor der Biologie hier«, sagt sie. »Er hatte sich bei der Otto-Benecke-Stiftung beworben und war kurz davor, angenommen zu werden.« Doch man hielt ihn zur Annahme eines Ein-Euro-Jobs an, bevor er ein Ausbildungsprogramm der Stiftung antreten konnte. »Ein Doktor der Biologie«, wiederholt Tamara Strijewski; »die Otto-Benecke-Stiftung«, sagt sie abermals. »Es ärgert mich, wenn Leute mit einer guten Ausbildung keine Zukunft haben.« Nach einer kurzen Pause kommt noch ein zusätzliches Ärgernis: »Ich war damals krank und konnte ihm nur am Telefon helfen.«
Ihren Antrieb hat Tamara Strijewski auf dem weiten Weg von Sankt Petersburg bis Mülheim an der Ruhr, von Bauzeichnungen bis zur sozialen Arbeit nicht verloren. Und diesen Antrieb, den braucht sie auch in ihrem Beruf. Ein Leben fern ihres Schreibtischs kann sich Tamara Strijewski nicht mehr vorstellen.