Gewalt

Wildwest in der Westbank

von Michael Borgstede

»Das bin ich, schaut, das bin ich!« ruft Nimrod seinen Freunden in einer Mischung aus Stolz und kindischer Freude zu. Seine Stimme überschlägt sich fast, er hüpft aufgeregt von einem Bein auf das andere und läßt aus Versehen sogar das Pappschild fallen, auf dem in großen Buchstaben geschrieben steht: »Olmert ist schlecht für die Juden.« Und tatsächlich, auf dem riesigen Bildschirm, den die Organisatoren der Demonstration auf dem Jerusalemer Zionsplatz aufgebaut haben, ist Nimrod für einen kurzen Augenblick in Großaufnahme zu sehen. Er hält sich die Hand vor den Mund, seine Unterlippe blutet. Hilflos und überrascht schaut der 16jährige in die Kamera, befühlt seine Lippe und fährt sich nachdenklich durch seinen jugendlich-weichen Bartflaum. Dann schwenkt die Kamera ab, zeigt wie zwei Polizisten mit Gummiknüppeln auf einige Mädchen einschlagen, die offensichtlich weglaufen möchten. Ein schöner Anblick ist das nicht. Die Siedler haben sich für ihre Demonstration die eindrucksvollsten Szenen der gewaltsamen Räumung des Siedlungsaußenposten Amonas zusammengeschnitten. Da reitet ein israelischer Polizist rücksichtslos einen Teenager nieder, da schlagen Sicherheitsleute wild um sich, humpeln blutende Frauen mit Babys durchs Bild. Untermalt wird das ganze von Klängen, die man normalerweise eher mit billigen Horrorfilmen in Verbindung bringt. So soll es also gewesen sein in Amona, und schuld ist in den Augen der Siedler der amtierende Ministerpräsident Ehud Olmert.
»Olmert ist schlecht für uns Juden«, beginnt Siedlerführer Pinkas Wallerstein seine Rede als er das Podium betritt. Er präsentiert eine Verschwörungstheorie, die innerhalb der Siedlergemeinschaft weit verbreitet ist: In der Nacht vor den Geschehnissen in Amona habe Olmert den Befehl gegeben, den Demonstranten die Beine und das Genick zu brechen, sagt er. Olmert sei nur deshalb gegen eine Untersuchungskommission, weil das Ergebnis ihn hinter Gitter bringen würde, versichert Wallerstein. Dann zerreißt der Knesset- abgeordnete Uri Ariel sich aus Trauer über die Zerstörung der neun unbewohnten Betonstrukturen in Amona sein Hemd. An großen Worten, vollmundigen Ankündigungen und symbolischen Gesten mangelt es nicht an diesem milden Winterabend in Jerusalem.
Am nächsten Morgen zitiert die Tageszeitung Jedioth Achronoth auf ihrer Titelseite den Schin-Bet Chef Juval Diskin. »Die Siedler wollen den Bürgerkrieg.« Das soll er wenige Stunden vor der Demonstration während der wöchentlichen Kabinettssitzung gesagt haben. Der Polizeikommandant des Westjordanlandes zeigte den Kabinettsmitgliedern Videoaufnahmen auf denen zu sehen ist, wie die Sicherheitskräfte die Siedlung friedlich betreten und erst nach Übergriffen der Siedler zu Schutzschildern und Schlagstöcken greifen. Ob die Polizisten während der Räumung unnötig und exzessiv Gewalt angewendet haben, wird eine Untersuchung zu Tage fördern. Vielleicht lag Olmert wirklich nicht viel daran, die Auseinandersetzung friedlich zu lösen, schließlich kann eine knallharte Aktion gegen die Siedler-Outcasts der israelischen Gesellschaft im Wahlkampf nur helfen. Auch die Siedler waren der gewaltsamen Auseinandersetzung nicht abgeneigt: »Ein Kampf zeugt von Leben«, hatte der Siedlerführer Bentzi Liebermann vor einigen Wochen gesagt. Sollte Amona ohne Widerstand geräumt werden, würde in den Zeitungen am nächsten Morgen stehen: »Die Siedler haben aufgegeben.« Dennoch war es Bentzi Liebermann, der am Morgen der Siedlungsräumung bei dem obersten Richter Elyakim Rubinstein um eine einstweilige Verfügung bat. Er wolle einen Kompromiß mit der Regierung aushandeln, sagte er. Hatte die Führung des Siedlerrates Jescha angesichts der Steine sammelnden Jugendlichen auf dem Hügel kalte Füße bekommen? In Amona hatte man kein Interesse an einem Kompromiß, die juristi-
schen Spiele der Erwachsenen konnten die Kampfeslust der Hügeljugend nicht befriedigen. Liebermanns Kollege Pinkas Wasserstein war bereits am Abend vor der Räumung von den jugendlichen Hitzköpfen aus Amona verjagt worden. »Der Jescha-Rat hat keinen Einfluß mehr auf die radikalen Elemente unter den Siedlern«, sagte Schin-Bet Chef Diskin am Sonntag dem Kabinett. Nicht nur die israelische Gesellschaft jenseits der Grünen Linie hat sich den Siedlern entfremdet, auch innerhalb der Siedlerbewegung bahnt sich ein Bruch an.
Es ist nicht nur ein Kampf um die praktische Umsetzung der gemeinsamen Ziele; kein pubertäres Aufbegehren der Kinder gegen die natürliche Autorität der Eltern. In Wahrheit prallen zwei unterschiedliche Denkweisen aufeinander. Religion und Zionismus sind die ideologischen Pfeiler der Siedlungsbewegung. Solange der Staat Israel die Siedler bei ihrem Streben nach den »biblischen Grenzen« aktiv unterstützte, waren beide Prinzipien problemlos miteinander zu vereinbaren. Erst jetzt, da eine pragmatische Politik des jüdischen Staates dem religiösen Eifer der Siedler Grenzen setzt, kommt es zum Konflikt. Den Siedlern stellt sich die Frage nach ihren Prioritäten: steht die Loyalität zum Staat, seiner Regierung und seinen Gesetzen über dem aus der Religion abgeleiteten Siedlungsstreben? Avi Gisser, der Rabbiner der Siedlung Ofra, meinte wohl das, als er den Demonstranten am Sonntagabend zurief: »Wir werden diesen Staat nicht aufgeben. Dies ist unser Staat, jüdisch und demokratisch.« Doch während Rabbi Avi Gisser seine Loyalität zum Staat Israel versicherte, waren in der Menge Transparente zu sehen, auf denen stand: »Dies ist nicht mein Erez Israel.«
Gisser sah die Transparente und macht sich Sorgen. Die Identifikation vieler Siedler mit dem Staat Israel lasse nach, stellt er fest. »Die Zerstörung Gusch Katifs war ein Schock für viele junge Leute. Sie fühlen sich von der Regierung verraten.« Die Krise sei nicht zuletzt eine Glaubenskrise. »Da beten einige Mädchen die ganze Nacht in der Synagoge von Neve Dekalim und was passiert dann, nach ihren Gebeten? Sie werden von Soldatinnen nach draußen getragen und in einen Bus gesetzt.« Das könne eine fundamentale Glaubenskrise hervorrufen. »Da kommen einem Fragen: Wie konnte Gott das zulassen, warum wurde unser Gebet nicht erhört?«
Dann sagt Rabbiner Gisser den entscheidenden Satz: »Für diese jungen Leute hat der Staat seine Heiligkeit verloren, ihre Religion und der Zionismus scheinen Ihnen unvereinbar.« Dieser Gedanke ist Rabbi Gisser so zuwider, daß er auf einmal ganz deutliche Worte findet: Die »wildgewordenen Anarchisten« in Amona müßten isoliert werden, sagt er aufgebracht. Sie hätten mit den Idealen des religiösen Zionismus nichts zu tun. »Wir haben von so einem Kampf genug! So etwas ist für uns nicht akzeptabel!« Und er fordert von den Eltern, daß sie ihre Kinder nicht mehr auf potentiell gewalttätige Protestaktionen schicken bevor er sich seufzend daran erinnert, daß die jugendlichen Steinwerfer sich von ihren Eltern kaum zurückhalten lassen werden.

Kultur

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