Ein junger Mann steht vor einem Orangenbaum, sein breites Gesicht ist ruhig, seine kurzen schwarzen Haare gepflegt, er strahlt aber keine Freude, sondern eher Einsamkeit und ein wenig Sorge aus. Auf der Rückseite steht: »In Erinnerung an deinen Wolfgang, 17. April 1949, Israel«, das letzte Wort auf Hebräisch. Das Foto legt er dem Liebesbrief bei, den er vom Kibbuz an seine Freundin Elisabeth schickt. »Ich habe ihr mitgeteilt, wer in Berlin die Auswanderung nach Israel organisiert«, erinnert sich Wolfgang Nossen, heute Vorsitzender der Jüdischen Gemeinde in Erfurt und des Landesverbandes Thüringen.
versprechen Doch drei Monate vergehen, und von Elisabeth kommt keine Nachricht. Wolfgang ist besorgt. Der Unabhängigkeitskrieg ist vorüber, Israel kann sich nun allein durchschlagen, denkt der 18-Jährige und will zurück zu seiner Freundin. »Obwohl meine Eltern und meine Geschwister noch in Erfurt lebten, durfte ich nicht zurück aus dem imperialistischen Ausland.« Derweil ist Elisabeth beleidigt. »Er ging weg mit großen Versprechungen, ich wartete und nichts geschah«, erinnert sie sich. »Das fand ich unmöglich und ging dann meinen Weg.« Sie gründet eine Familie in der DDR. Er eine in Israel.
»Die Tür ging auf, da schien die Sonne.« So beschreibt Wolfgang Nossen heute seine erste Begegnung mit Elisabeth Erdmann in Erfurt. An jenem Abend im Jahre 1947 saß er im Englischunterricht der Volkshochschule, als sich die Tür öffnete und Elisabeth sich in fließendem Englisch für die Verspätung entschuldigte. Sie unternehmen Radtouren auf der fast leeren Autobahn, wandern durch Wälder oder vergnügen sich im UFA-Palast, wo Wolfgang alle vier Plätze in der Loge reserviert.
Im Oktober 1948 endet diese Zeit abrupt. Nossen, der im Zweiten Weltkrieg Zwangsarbeit leisten musste, will weg aus Deutschland und am liebsten dem gerade gegründeten Staat Israel in seinem Existenzkampf helfen.
Infolge einer antisemitischen Welle im gesamten Ostblock wandern Nossens Eltern und Schwestern zusammen mit 500 Gemeindemitgliedern 1953 nach Nürnberg aus. Dennoch stellt der in Israel lebende Nossen immer wieder Anträge, um in Erfurt seine Nenntante Hilde und seinen Freund Herbert zu besuchen. Die DDR verweigert ihm wieder die Einreise. Aber er ist hartnäckig, und so gelingt es ihm, Elisabeth noch einmal zu sehen. 1959 trifft sie ihn, mit Genehmigung ihres Ehemannes, für drei glückliche Tage in Berlin. Dann bricht sie den Briefkontakt ab, um ihre Familie zu schützen.
ost-west Ab 1961 trennt die Mauer sie scheinbar endgültig. 1977 zieht Wolfgang Nossen mit seiner Frau und drei Kindern nach Nürnberg, wo seine Familie lebt. Eines Tages blättert er im Familienalbum seiner Schwester: »Auf einmal sehe ich das Bild. Ich wusste sofort: Dieses Bild gab es nur einmal, und das habe ich ihr nicht geschickt.« 1949 hatten Heinz Galinski, Vorsitzender der Jüdischen Gemeinde zu Berlin, und Julius Meyer, Vorsitzender des Verbandes der Jüdischen Gemeinden der DDR, im Kibbuz Naan die jungen Einwanderer aus Deutschland besucht. Auf dem Rückweg nehmen sie deren Briefe mit. Weil Wolfgang seine Beziehung verheimlichen wollte, adressierte er sein Schreiben an seine Familie. »Der Brief lag auf dem Tisch. Meine Schwester merkte, dass darin ein Bild ist, machte auf und nahm das Foto. Den Brief konnte sie so nicht schicken, also warf sie ihn weg.« Wenige Jahre später ist Nossen zurück in Nürnberg. Seine Ehe ist gescheitert, er lebt in Scheidung und fährt beruflich oft nach West-Berlin. »Wenn ich am Hermsdorfer Kreuz die Abzweigung nach Erfurt sah, dachte ich: Es sind nur 70 Kilometer. In einer Stunde wäre ich da.«
neuanfang Mit der politischen Wende kommt sein privater Neubeginn. Im Frühjahr 1989 erhält er zum ersten Mal ein Visum für die DDR, um in Erfurt am 21. November mit Tante Hilde ihren 81. Geburts- tag zu feiern – zum ersten Mal nach über 40 Jahren. Er sucht vergeblich Elisabeth Erdmann im Telefonbuch. Nossen fragt bei der Polizei nach, wo man ihm vorschlägt, alle Erfurter Erdmanns anzurufen. »Ich rief den ersten Erdmann, wo keine Frau dabei stand, an«, erinnert sich Nossen.
kulinarisch »Du hast gefragt, ob Elisabeth Erdmann am Telefon sei. Du hast gar nicht zu Ende gesprochen, da habe ich gesagt: ›Wolfgang, das bist du doch!‹« Sie backt eine Himbeertorte mit Schlagsahne, er kommt zum Kaffeetisch, sie trennt sich von ihrem Ehemann, mit dem sie seit Jahren nur noch auf dem Papier verheiratet ist.
Mit Wolfgang Nossen ist Elisabeth seitdem zusammen, zuerst in Nürnberg, dann in Erfurt, wo er seit 1995 Gemeindevorsitzender ist. Elisabeth hilft oft mit: »Wenn ich in der Synagoge sauber gemacht habe, dachte ich oft: ›Hier saßen so viele Hunderte Menschen. Wo sind sie hin?‹« Dann denkt sie an deren Elend und Leid. Konvertieren wollte Elisabeth aber nie: »Mir fehlt der Glaube.«
Vor Kurzem feierten Wolfgang und Elisabeth in Erfurt den 20. Jahrestag ihrer privaten Wiedervereinigung. Ihre Liebe überstand die lange Trennung, die sehr unter- schiedlichen Lebenserfahrungen, die DDR und die Mauer. »Keine Frage: Ich würde dasselbe wieder machen«, ist er überzeugt. »Leider haben wir 40 Jahre verloren.« Elisabeth sagt: »Das Alter hat auch seine Schattenseiten, aber zusammen lassen sie sich sehr viel leichter ertragen.«