Das Gebäude hat die Form eines Kelchs, der sich in Richtung des ehemaligen Lagers Bergen-Belsen öffnet. Der Turm erinnert an einen erhobenen Zeigefinger. Über dem Altar prangt ein gefesselter Jesus. Die »Sühnekirche vom kostbaren Blut« in der niedersächsischen Kleinstadt Bergen wurde 1961 als Mahn- und Gebetsort errichtet. Sie soll vor allem an die mehr als 70.000 Toten in dem früheren Gefangenen- und Konzentrationslager erinnern.
Doch die Zukunft des katholischen Gotteshauses ist ungewiss. Nachdem zwischenzeitlich bereits der Abriss zur Disposition stand, berät seit einigen Monaten das zuständige Bistum Hildesheim über den weiteren Umgang mit dem ungewöhnlichen Bauwerk. Ergebnisse sind bislang nicht bekannt, Ideen gibt es indes einige.
Sanierungsbedürftig In den vergangenen Jahren wurde die Kirche, die dem Bistum gehört, vor allem von der örtlichen Pfarrgemeinde für ihre Gottesdienste genutzt. Allerdings kamen zuletzt immer weniger Besucher. Zudem ist das Gebäude sanierungsbedürftig. Die Kosten schätzte das Bistum im Jahr 2021 auf 1,5 Millionen Euro. Im Mai vergangenen Jahres gab der Bergener Kirchenvorstand überraschend bekannt: »Die Kirche mit allen Nebengebäuden wird abgerissen, da das Bistum Hildesheim die Kosten für die Sanierung nicht übernimmt und auch kein Sponsor gefunden wurde.«
Nach öffentlicher Empörung schaltete sich Bischof Heiner Wilmer ein und verkündete einige Monate später, sich für den Erhalt der Kirche einzusetzen. »Ein schlichter Abriss der Sühnekirche würde das falsche Signal in die Gesellschaft setzen, dass die Kirche mit der Geschichte des Nationalsozialismus fertig ist und wir einfach - manche würden sagen endlich - zur Tagesordnung übergehen können«, schrieb Wilmer Anfang des Jahres in der Zeitschrift »Herder Korrespondenz«.
Er plädierte dafür, neue Formen der Erinnerung an diesem Ort zu etablieren. Das Gotteshaus könne ein Ort der Begegnung, des gemeinsamen Nachdenkens und des Gebets dafür werden, dass die Gewalt nicht das letzte Wort habe.
Krise »Das Charisma der Sühnekirche ist über die Jahre in die Krise gekommen«, so Wilmer. Eine örtliche Sühnebruderschaft, der in den 60er- und 70er-Jahren bis zu 600 Personen angehört hätten, habe sich schon vor Langem aufgelöst. Wallfahrten fänden kaum noch statt.
»Wir müssen die Frage beantworten, welche Bedeutung wir dem geistlichen Erbe der Sühnekirche beimessen und wie wir zukünftig damit umgehen wollen«, so der Bischof. Das scheinbar Unzeitgemäße und Sperrige der Rede von Sühne stelle dabei »eine produktive Herausforderung« dar.
In der Gemeinde ist man froh, dass das Bistum die Verantwortung übernommen hat. »Wir würden die Kirche gerne für unsere Gottesdienste weiternutzen, aber wir können die Sanierungskosten nicht selbst tragen«, sagt Ursula Dammann vom Kirchenvorstand im Gespräch mit der Katholischen Nachrichten-Agentur (KNA).
Neugestaltung Die Wallfahrten und Besuche von Überlebenden in der Vergangenheit seien für die Pfarrei nicht immer leicht gewesen. »Es gab viel zu organisieren, und es wurden viele Predigten rund um das Gedenken gehalten.« In die Überlegungen zur Neugestaltung der Gedenkarbeit wolle man sich gerne mit einbringen.
Die ehrenamtliche Arbeitsgemeinschaft Bergen-Belsen, die das Gedenken in der Region wachhalten will, schlägt vor, aus dem Gotteshaus eine Friedenskirche zu machen, in der auch weltliche Veranstaltungen stattfinden könnten. An der Gestaltung sollten sich verschiedene Institutionen beteiligen, meint die Vorsitzende Elke von Meding.
Auch die Stadt Bergen, die sich das Motto »Stadt des Frieden und der Internationalität« gegeben habe, könne sich miteinbringen. »Entscheidend ist, dass die Kirche immer an das Geschehen im ehemaligen Lager Bergen-Belsen erinnert.« Vom Namen »Sühnekirche« jedoch würde von Meding abrücken: »Damit kann heute keiner mehr etwas anfangen.«
Bedeutsamer Ort Die Leiterin der rund acht Kilometer entfernten staatlichen Gedenkstätte Bergen-Belsen, Elke Gryglewski, plädiert ebenfalls dafür, das Gotteshaus zu erhalten. »Die Sühnekirche ist ein erinnerungspolitisch bedeutsamer Ort. Sie greift den religiösen Aspekt des Erinnerns auf, was wir in der Gedenkstätte aus guten Gründen nicht tun«, so Gryglewski auf KNA-Anfrage.
Die Gedenkstätten-Leiterin spricht sich dafür aus, den Namen »Sühnekirche« bewusst beizubehalten. Die sperrige Bezeichnung sei Teil des Konzepts und biete einen Gesprächsanlass. »Die Intention der Erbauer war nicht, eine Friedenskirche zu errichten.« Vielmehr hätten sie Verantwortung für das in der Geschichte begangene Unrecht übernehmen wollen. »Der Name Sühnekirche erinnert uns auch daran, dass nicht wir den Überlebenden die Hand der Versöhnung reichen können, sondern dass wir sie nur bitten können, uns ihre Hand zu reichen.«
Gryglewskis Ansicht nach sollte das Bistum künftig die Verantwortung für den Betrieb der Kirche übernehmen. Für beispielhaft hält sie die Gedenkkirche Maria Regina Martyrum in Berlin-Plötzensee und das Kloster bei der Gedenkstätte Esterwegen im westlichen Niedersachsen. In Plötzensee wird das Gedenken maßgeblich von Schwestern des Karmelitinnenordens wachgehalten. In Esterwegen leben Franziskanerinnen und stehen für Gespräche zur Verfügung.
Kirchenumnutzung Auf diese Vorbilder verweist auch der Bonner Theologe Albert Gerhards. Der emeritierte Liturgiewissenschaftler beschäftigt sich seit vielen Jahren mit dem Thema Kirchenumnutzung. »Es hat mich schockiert, dass eine christliche Gemeinde keine Mitverantwortung übernehmen will und den Abriss der Sühnekirche bekanntgab«, sagt er. »Wenn es eine Instanz gibt, die für Erinnerungskultur zuständig ist, dann sind es doch die Kirchen.«
Er könne einerseits nachvollziehen, dass eine Pfarrei mit dem Gedenken überfordert sei. Andererseits könne dies durchaus zu einem Schwerpunkt der Gemeindearbeit werden, wenn es aktiv gestaltet werde, so Gerhards. Entscheidend sei, das Gedenken ins Positive zu lenken und Bezüge zur heutigen Zeit herzustellen, etwa zum Erstarken des Rechtsterrorismus oder zum Ukrainekrieg. Dazu müsse die Gemeinde vom Bistum unterstützt werden - auch finanziell und personell.
Sühne, so der Theologe, sei von Jesus Christus her zu verstehen. Der stellvertretende Sühnetod Jesu ermögliche es, sich der eigenen Schuld und der bleibenden Verantwortung zu stellen. Allerdings werde der Begriff häufig falsch interpretiert. »Daher würde ich versuchen, einen anderen Namen zu finden.«
Das Bistum ist einer Mitteilung zufolge auf der Suche nach ökumenischen, interreligiösen oder gesellschaftlichen Bündnispartnern. Auch ist daran gedacht, eine Projektstelle einzurichten. Details zu den aktuellen Beratungen nennt die Diözese nicht. Unterdessen ist die Sühnekirche seit April »aus Gründen der Verkehrssicherung« vorläufig geschlossen.